Das Zentrale der Existenz ist weder das Subjekt noch dessen gehirnliche Wahrnehmung, zentral ist die Kraft, die beides hervorbringt und mit einem Vorstellungsapparat ausstattet, den diese Kraft sich zunutze macht, um sich selbst abzubilden und damit aus dem scheinbaren Nichts ihres Seins herauszuholen. Wir neigen dazu, das Akzidentielle mit dem Essenziellen zu verwechseln; deshalb ist alles Forschen am Gehirn und an dessen Konstruktionen Fokussieren des Nebensächlichen.
Schlagwort: Wahrnehmung
Menschenkenntnis
Im Laufe der Jahre bildet sich bei den meisten Menschen ein Geflecht von Vorurteilen, die sie Erfahrung nennen, und deshalb betrachten sie die andern (wie sich selbst) meist recht oberflächlich und geben ihnen nur dann die Chance, genauer angeschaut zu werden, wenn sie ins Schema passen, das die Menschenkenner sich zurechtgelegt und dessen Grundlage sie mit dem Namen Menschenkenntnis versehen haben. Es ist sehr schwer, ein solches Verhalten abzustellen, weil dem unbewußte, nicht reflektierte Prozesse zugrunde liegen. Sich selbst nimmt man vor allem deshalb nicht realistisch wahr, weil man gleich einer Mater genau der stereotypen Grundform entspricht, die man sich zurechtgebastelt hat – eingehende Betrachtung nicht notwendig, denn man glaubt sich zu kennen, auszukennen mit sich selbst.
Der atmende Sinn
Ohne Ausrüstung unter Wasser zu atmen hat vordergründig keinen Sinn. Wie aber erkennt der Mensch, der weitgehend blind ist und allen Grund hat, seiner Wahrnehmung zu mißtrauen, am zuverlässigsten, ob er sich unter Wasser befindet?
Indem er versucht zu atmen.
Die alternde Mnemosyne
Haben wir etwas verlegt, neigen wir, wenn wir in die Jahre kommen, dazu zu glauben, unser Gedächtnis hätte nachgelassen, was dadurch untermauert wird, daß wir beispielsweise öfter auf der Suche nach verlegten Gegenständen zu sein scheinen als früher. Wohl weil wir uns, wie bereits zu früheren Zeiten, nicht mehr daran erinnern mögen, in der Vergangenheit ähnlich häufig nach etwas gesucht zu haben wie heute, halten wir ein mit der Zeit nachlassendes Gedächtnis für unausweichlich. Tatsächlich ist es so, daß die Gedächtnisleistungen im höheren Alter ein wenig nachlassen, aber das liegt zum großen Teil daran, daß viele meinen, sie müßten sich jeden Quark merken, und damit die mnemonische Registratur in ihrem kognitiven Apparat unnötig überfordern.
Der Hauptgrund für unnötiges Suchen ist jedoch eine Abnahme der Bewußtheit. Wir erinnern uns nicht mehr, wohin wir die Bohrmaschine gelegt haben, weil wir beim Ablegen mit den Gedanken bereits woanders waren, etwa bei Schrauben und Schraubenzieher. Je mehr uns bekannt ist an Gegenständen und Abläufen, um so mehr wird als selbstverständlich betrachtet und damit aus dem Bewußseinsfokus ausgesondert. Kennen wir alles.
Wer zunehmend vergeßlich wird, dem hilft nicht so sehr ausgefeilte Mnemotechnik, als vielmehr eine verstärkte bewußte Wahrnehmung der Umgebung, aber vor allem des eigenen Tuns. Dazu ist manchmal ein etwas langsameres Agieren notwendig als gewohnt, und das ist nicht nur gut fürs Bewußtsein und das Gedächtnis, sondern schont auch die Nerven und entlastet die Knochen.
Wahrnehmungshavarie
Der Teilzeitmissionar Peter Hahne äußert sich beim »kritischen Journalisten« (»Ohne Belehrung. Ohne Ideologie«) Reitschuster darüber, »was wir jetzt erleben«: »Das ist ja Faschismus«, genauer »rot-grün-schwarzer Faschismus«.
Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: Es finden in unserem einstmals schönen Land allabendlich Bücherverbrennungen statt, allüberall entstehen Konzentrationlager, und jeden Tag kann man sehen, wie Uniformierte auf dem Land bereits Massengräber für die Opfer der Zwangstodesspritzen ausheben. Und nirgendwo darf man mehr frei seine Meinung äußern.
Eine schlimme Zeit, das muß man sagen. Viele wünschen sich vermehrt zurück in die gute alte Zeit der dreißiger/vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die glorreiche Zeit des Nationalsozialismus/Faschismus.
Aber war das tatsächlich eine so gute alte Zeit damals? Gab es damals nicht auch bereits Bücherverbrennungen, Massengräber, Konzentrationslager? Ja, schon, kann sein, das wird zumindest behauptet. Ob das jedoch wirklich stimmt, man weiß es nicht.
Eines wissen wir jedenfalls genau: Das gab es damals ganz sicher nicht für Menschen wie uns Volksgenossen, die »wir« dem jetzigen Faschismus ausgeliefert sind. Seine Meinung durfte damals immerhin jeder sagen. Also: die Wahrheit.
So wird in manchen Köpfen versucht zu glaubdenken. Manche glauben so was tatsächlich zu denken.
Wohl dem, der nicht derartig schlimmen Wahrnehmungsstörungen ausgeliefert ist.
Stilisierung
Es ist völlig unsinnig, einem Künstler vorzuwerfen, durch seine Stilisierung der Realität reduziere er sie und verwandle sie willkürlich in abstrakte Unerkennbarkeit. Ist doch jede Wahrnehmung von Objekten ein automatisierter Prozeß reduzierter und selektiver Aneignung. Der Künstler tut nichts anderes, als auch diesen Prozeß wahrzunehmen und ihn für kurze Zeit zu individualisieren. Wer glaubt, Realität sei etwas, was unabhängig von Wahrnehmung existiere, macht Realität zu einem bildgebenden Automaten. Die wahre Reduktion ist die, bei der das Bild bereits im Kopf ist, bevor man es sieht.
Wahr oder nicht wahr?
Auch ein Wirrkopf hat seine Wahrheit und kann wahrhaftig sein. Und ob etwas wahr ist oder nicht, wer will darüber entscheiden? Ist es schon Wahrheit, wenn einer etwas ebenso wahrnimmt und damit vielleicht für wahr nimmt wie ich, oder entscheidet erst eine qualifizierte oder auch weniger qualifizierte Mehrheit darüber, was wahr sein soll? Oder ist Wahrheit, wie ich glaube, in den meisten Fällen nur eine ungesicherte Fiktion? Und: Ist dies, was ich schreibe, bereits dadurch wahr, daß ich es glaube?
Still sehen
Um uns klarzumachen, was wir unserm Gehirn abverlangen, wenn wir in einer Gemäldegalerie tatsächlich aufmerksam ein Bild betrachten, so wir das noch können, sollten wir uns mal für anderthalb Stunden vor eines setzen und dabei bedenken, daß wir ungefähr hundertdreißigtausend Bilder sehen, wenn wir einen durchschnittlichen Kinofilm anschauen – ohne die übliche Magnum- und Bacardi-Berieselung.
Zufall und Notwendigkeit
Auch der Zufall hat eine innere Notwendigkeit, ist also immer nur ein relativer, doch in der Notwendigkeit ist kein Platz für den Zufall. Notwendigkeit ist absolut. Notwendigerweise gibt es Zufälle, aber es ist kein Zufall, daß es Notwendigkeit gibt.
Zufall ist ein Ereignis im Schnittpunkt von Kausalketten, ein Ereignis, dessen Notwendigkeit wir erkennen würden, wenn wir alle Kausalketten aus einer Art perspektivloser Vogelperspektive betrachten könnten.
Den Ursprung dieser Kausalketten ausmachen zu wollen überschreitet die Grenzen dessen, was unsere Apperzeption generiert, und damit die Möglichkeiten des menschlichen Denkens. Zufall und Notwendigkeit sind gebunden an die Welt der Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und in unserem Bewußtsein zu einem Bild gestalten.
Ein wie auch immer geartetes Absolutes zu erkennen, das bleibt der inneren Wahrnehmung überlassen, ist jedoch sprachlich-logisch nicht darstellbar.
Oberflächlichkeit
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es manchmal so, als nehme Oberflächlichkeit zu, bei genauerer Betrachtung merkt man jedoch schnell, daß der Begriff „oberflächlich“ ein sehr oberflächlicher ist und nicht viel mehr aussagt, als daß der Benutzer eines solchen Begriffs das Gefühl hat, er wäre weniger oberflächlich als der größte Teil seiner Mitmenschen. Die Klage über die Oberflächlichkeit der Kultur ist indessen so alt wie die Kultur selbst, und mit jedem, der in seiner Umgebung Oberflächlichkeit diagnostiziert (und das sind viele), scheint die Oberflächlichkeit abzunehmen. Da das jedoch nicht der Fall ist, wird sich wohl der ein oder andere bei der Selbstdiagnose ein wenig irren.
Dazu kommt noch die Relativität des Begriffs. So mancher, der seine Rosen mit der Lupe betrachtet, zetert über die oberflächlichen Ahnungslosen, die das nicht tun, während er selbst auf Anfrage nichts darüber berichten kann, welche Gewürze seine Soße schmackhaft machen.
Jedes genaue Hinsehen, Hinhören, Hinschmecken, Hinfühlen ist ein selektiver Akt, der durch Oberflächlichkeit in anderen Bereichen erkauft ist: Niemand kann seine Wahrnehmung so anlegen, daß er alles zu jeder Zeit gleichermaßen differenziert wahrnimmt. Das gilt in noch stärkerem Maße für die gedankliche Weiterverarbeitung des sinnlich Wahrgenommenen.
Frische Brise
Um den schleichenden Prozeß der zunehmenden Statisierung in unserer Wahrnehmung zu konterkarieren, sollten wir uns angewöhnen, die Dinge wenigstens von Zeit zu Zeit nicht zu betrachten, wie wir sie kennen, sondern wie wir sie sehen.
Tirade 122 – Ohne Augen
Kein Blickezählen
Perspektiven verschieben
Multiplikation
Wahrheit ist nur im Dunkel
ohne Augen zu sehen
Faktum und Zeichen
So wie das Licht, das auf unsere Umgebung fällt oder sie überfließt, wie jede Strahlung je nach Betrachtung und Beschreibung Teilchen- oder Wellencharakter hat, so ist auch unsere Umgebung je nach Betrachtungsweise ein Fakten- oder ein Zeichensystem. Wer nur eines von beiden wahrnimmt, wird mit einem reduzierten Bild im Kopf herumlaufen, das dazu beiträgt, die eine oder andere Seite der Realität auszublenden.
Die natürliche Sicht
Die natürliche Sicht ist leider nur bei gutem Wetter klar. Und selbst dann ist sie abhängig von der Qualität unserer Augen. Die »Wahrheit« aber liegt auch bei strahlendem Sonnenschein verborgen im unsichtbaren Nebel.
Sehen und Hören
Einen Menschen kann man erst dann richtig hören, wenn man ihn einmal gesehen hat.
Konstanten der Wahrnehmung
Wir erfahren die Welt nicht nur gemäß unseren Erfahrungen und Glaubenssätzen, sondern vor allem und in erster Linie gemäß unseren angeborenen Wahrnehmungskonstanten.
Raum und Zeit sind nicht real im materiellen Sinn, sondern Ausdruck unserer apriorischen Bewußtseinsstrukturen.
Niemand hat in dieser Hinsicht eine Wahl.
Wählen können wir lediglich bei der Bewertung des Ganzen: Unsere Erfahrungen, Religion und Philosophie sind Folge unserer Sinneseindrücke und gedanklichen Ableitungen, nicht etwa umgekehrt. Sosehr wir uns das auch wünschen mögen.
Was wir ändern können, sind lediglich Bewußtseinszustände, Fokussierungen und Perspektiven. Die Grundmuster unserer Wahrnehmung, das eigentliche Bewußtsein können wir nicht ändern, es ist gewissermaßen ins Sein eingewachsen.
All unser Denken und Handeln ist Ausdruck unserer Sinneswahrnehmung, und wir können uns mit Hilfe der Phantasie unendlich viel zurechtmachen, aber eine Welt jenseits von Zeit und Raum können wir uns nicht vorstellen. Und dabei sind Zeit und Raum nichts anderes als unsere angeborene Vorstellung von der Realität. Sie kommen nicht den Dingen selbst zu.
Was wirklich „ist“, können wir nicht wahrnehmen, wir bleiben immer im Netz unserer selbstgeschaffenen Vorstellungen, Erscheinungen hängen. Bestenfalls können wir spekulieren, welche böse Spinne dieses Netz gewebt hat und ob und, wenn ja, warum sie uns darin fangen will.
Über grüne und blaue Mäuse
Nimmt einer in seiner meditativ gestützten Intuition grüne Mäuse wahr, dann sagt das etwas über seinen Farbsinn und die Art seiner Wahrnehmung aus, wenn ein anderer blaue sieht, gilt das gleiche. Über »kosmische Wahrheit« oder wie immer man das nennen mag, sagt beides nichts.
Wenn nun ein dritter sich hinsetzt und nach einiger Zeit grüne oder blaue Mäuse sieht, dann sagt das ebenfalls nichts über »kosmische Wahrheit«, sondern nur über dessen Farbsinn und dessen Art der Wahrnehmung und darüber, ob er sich mit Grünmaussehern oder mit Blaumaussehern identifiziert.
Und dann gibt es natürlich auch noch die weißen und die profanen grauen Mäuse und die mit gestreiften Hosenträgern, je nach Konfession und Esoterikgrad der Bildbetrachter. Und nicht zuletzt die zähe Volksmetaphysik der exoterischen Weltreligionen mit ihren spezifischen optischen Filtern.
Und die freiwilligen und unfreiwilligen Farbenblinden.
Der größte Teil von dem, was wir wahrnehmen, ist die Folge unserer unbewußten oder halbbewußten Entscheidung, was wir wahrnehmen wollen.
Wissen und Wahrnehmen
Das Wissen darüber, was richtig und falsch, gut und böse, angemessen oder unangemessen ist, reicht nicht aus – wir müssen das Falsche auch wahrnehmen, einerlei ob es sich um unsere eigenen Fehler oder die Fehler anderer handelt.
Altruistische Wahrnehmungsbeschränkung
Besser ist es, im Nebel zu wandern, als mit einem Brett vorm Kopf herumzulaufen, denn je nach Dichte des Nebels und Perspektive des Betrachtenden bietet Nebel zwar keine sonderliche Farbigkeit, aber immerhin ein gewisses Maß an Transparenz.
Bretter hingegen leuchten hin und wieder in schönen Farben, aber das ist nur für den Betrachter von außen sichtbar, woraus folgt, daß jedwede Erheiterung in diesem Falle eine einseitige ist. Das Brett vorm eigenen Kopf nützt also höchstens den andern.
Nur unverbesserlichen Altruisten kann das Legitimierung und Trost bedeuten. Sie lieben ihre Bretter so sehr, weil sie den andern etwas Gutes tun wollen, völlig uneigennützig. Völlig uneigennützig?
Oder ist am Ende nicht gar so falsch, was Heinrich von Kleist dermaleinst schrieb, nämlich daß der Altruismus die versteckteste Form des Egoismus sei?
Apperzeptionsdefizit
Allzu häufig gehen wir mit den Augenblicken unseres Lebens um wie Raucher mit dem Mittagessen: In Gedanken sind wir schon bei der Zigarette danach, und es gibt keine Verbindung zwischen unseren Sinnesorganen und unserem Bewußtsein.