Objektivität

Wenn ich mir Objektivität vorzustellen versuche, dann hat dies doch immer subjektiven Charakter. Nicht nur ist jeder Objektivierungsversuch meine ganz spezifische subjektive Art der Vorstellung von Objektivität, sondern vor allem die Entscheidung, von mir selbst und meinem Standpunkt absehen zu wollen, ist eine höchst subjektive. Warum sollte ich das tun? Aus moralischen Gründen? Um Gott zu spielen? Um mir selbst oder andern etwas vorzumachen? Wir alle sind voll von Ideen und Meinungen, die wir für selbstverständlich halten, die jedoch tatsächlich kulturell gewachsen sind und aus der Perspektive einer denkbaren anderen Kultur als banal oder absurd betrachtet werden können. Dazu gehört auch die Idee der Objektivität, an die ich nicht glaube.

Diskussion

Wahre Wahrheit – stets aktuell

»Die Wahrheit muss erlaubt sein.« Das klingt ganz toll; die Frage ist nur: wessen Wahrheit? Das Schlimme ist: Ein jeder glaubt, seine Interpretation der politischen – und jeder anderen – Wirklichkeit sei wahr und die des Widersprechenden entspreche nicht der »Wahrheit«. Solange jemand glaubt, die »Wahrheit« in seinem Besitz zu haben, läuft etwas falsch, ganz egal ob am rechten Wegrand oder am linken. Es gibt Fakten, über die man diskutieren kann, und zwar kontrovers oder nichtkontrovers – »Wahrheit« aber gibt es nur in den Träumen von Vereinfachern.

Wahrnehmungshavarie

Der Teilzeitmissionar Peter Hahne äußert sich beim »kritischen Journalisten« (»Ohne Belehrung. Ohne Ideologie«) Reitschuster darüber, »was wir jetzt erleben«: »Das ist ja Faschismus«, genauer »rot-grün-schwarzer Faschismus«.

Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: Es finden in unserem einstmals schönen Land allabendlich Bücherverbrennungen statt, allüberall entstehen Konzentrationlager, und jeden Tag kann man sehen, wie Uniformierte auf dem Land bereits Massengräber für die Opfer der Zwangstodesspritzen ausheben. Und nirgendwo darf man mehr frei seine Meinung äußern.

Eine schlimme Zeit, das muß man sagen. Viele wünschen sich vermehrt zurück in die gute alte Zeit der dreißiger/vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die glorreiche Zeit des Nationalsozialismus/Faschismus.

Aber war das tatsächlich eine so gute alte Zeit damals? Gab es damals nicht auch bereits Bücherverbrennungen, Massengräber, Konzentrationslager? Ja, schon, kann sein, das wird zumindest behauptet. Ob das jedoch wirklich stimmt, man weiß es nicht.

Eines wissen wir jedenfalls genau: Das gab es damals ganz sicher nicht für Menschen wie uns Volksgenossen, die »wir« dem jetzigen Faschismus ausgeliefert sind. Seine Meinung durfte damals immerhin jeder sagen. Also: die Wahrheit.

So wird in manchen Köpfen versucht zu glaubdenken. Manche glauben so was tatsächlich zu denken.

Wohl dem, der nicht derartig schlimmen Wahrnehmungsstörungen ausgeliefert ist.

Philosophieren

Recht verstanden, ist Philosophie nicht etwa eine Lehre von den Erscheinungen, den sichtbaren Dingen, auch nicht irgendeine Art, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in systematische Prokrustesbetten zu stopfen. Vielmehr ist Philosophie – oder besser das Philosophieren – eine Methode zur Gedankenerhellung, so etwas wie ein Klärwerk für die Massen naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Faulschlamms, die unsere Gehirne Tag für Tag erzeugen und absondern. Nicht zu vergessen natürlich die alltägliche psychologische Wahnproduktion. Es muß eine Instanz geben, die all die eigenen und fremden Gedanken in uns auf ihre Stichhaltigkeit prüft.

Wahr oder nicht wahr?

Auch ein Wirrkopf hat seine Wahrheit und kann wahrhaftig sein. Und ob etwas wahr ist oder nicht, wer will darüber entscheiden? Ist es schon Wahrheit, wenn einer etwas ebenso wahrnimmt und damit vielleicht für wahr nimmt wie ich, oder entscheidet erst eine qualifizierte oder auch weniger qualifizierte Mehrheit darüber, was wahr sein soll? Oder ist Wahrheit, wie ich glaube, in den meisten Fällen nur eine ungesicherte Fiktion? Und: Ist dies, was ich schreibe, bereits dadurch wahr, daß ich es glaube?

Hüter der Wahrheit

Wir sind dazu verdammt, Hüter einer Wahrheit zu sein, von der wir nichts wissen und an an deren Existenz wir nicht einmal inbrünstig glauben können, wenn wir unter glauben mehr verstehen als nur habituelles Dafürhalten.

Über Benns »Ptolemäer«

Das Leben – dies Speibecken, in das alles spuckte, die Kühe und die Würmer und die Huren –, das Leben, das sie alle fraßen mit Haut und Haar, seine letzte Blödheit, seine niedrigste physiologische Fassung als Verdauung, als Sperma, als Reflexe – und das nun noch mit ewigen  Zwecken garniert …

 

Das ist die Reduktion des Lebens auf das, was übrigbleibt, wenn man die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichem Sein in den Trümmern der Ideologeme und dem idealistischen Denken betrachtet, wenn man sieht, was sich trotz des Kanons der moralischen Werte ereignet hat: Völkerabschlachten. Man mußte 1947 die moralischen Werte nicht mehr in den Mülleimer werfen, denn sie lagen längst darin, und auch wenn sie wieder herausquellen, so sind sie doch auf alle Zeit fragwürdig geworden. Oder richtiger noch: Ihre Fragwürdigkeit trat allen Sehenden vor Augen, aber sie hatten nicht mehr die Kraft, diese zu reiben. Noch Raskolnikow hatte unter seiner Tat gelitten, aber nun war das »moralische Fluidum«, wie Benn das nennt, zur Ruhe gekommen.

Was bleibt für Benn, ist individualistische Ästhetisierung in der Nachfolge Spenglers und vor allem Nietzsches. Benn nennt das prismatischen Infantilismus, Kinderspiele auf Erwachsenenniveau. Auch der Schöpfer, so vermutet Benn, hat nicht mehr vor mit den Menschen als »seine übliche Spielerei«, und das Gerede von der Menschheit ist nichts als Propaganda ohne jede teleologische Relevanz.  

Dem Irrationalen im Sein ist mit dem Denken nicht beizukommen, deshalb wird das Denken nur noch als eine Art mechanischer Zwang wahrgenommen, und es bietet sich für den einzelnen als Aufgabe (in seiner doppelten Bedeutung) der Ausweg, der keiner ist: sich abzufinden und mit Seeblick zu privatisieren. Und das Spiel der Kunst. Soweit Benns verbittertes Resümee.

Zynismus? Oder Wahrheit? Als wären diese Begriffe antonymisch. Was ist Zynismus? Die Antwort auf diese Frage hängt von der subjektiven Interpretation des Fragenden ab, von seiner Definition, die wiederum abhängig ist davon, wie er Wahrheit definiert. Dem Wahrheitsbesitzer ist jede spöttische Abweichung von seiner Wahrheit Zynismus. Erst recht die kritische Dekonstruktion seiner Wahrheitsbasis. In diesem Fall ist man versucht zu sagen, Benn spricht die Wahrheit auf zynische Art und Weise aus. Aber in Wirklichkeit ist es nur bitterer Sarkasmus, den wir hier sehen. Und Benns Wahrheit ist nur seine Wahrheit, so wie meine meine ist und deine deine; denn die alleinseligmachende Wahrheit propagieren nur Lügner, Gläubige und Verblendete.

Wahrheit ist stets perspektivisch, und nur einer könnte all diese verschiedenen Perspektiven zu einem Ganzen zusammenfassen. Das wäre dann die Wahrheit der Wahrheiten. Wir können das nicht, denn wir sind nur kleine Göttchen oder wären nur winzige Schnipsel vom großen Gott, wenn es ihn gäbe. Aber ob es ihn gibt, das wissen wir nicht.

Unterdrückung

Viele Konflikte entstehen dadurch, daß jene, die glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, aber nicht die Macht haben, andere zu unterdrücken und die eigene Wahrheit anderen gewaltsam aufzuzwingen, dazu neigen, sich selbst als ungerecht Behandelte und Unterdrückte zu betrachten. Was in gewisser Weise sogar zutreffend ist, wenn man es als Unterdrückung betrachtet, jemanden daran zu hindern, seinen totalitären Neigungen entsprechend zu leben.  

Aletheiische Dialektik

Lebend im Zeitalter destruierter Wahrheiten, müssen wir lernen, Lügen aufzudecken, ohne die Wahrheit zu sagen. Selbst dann, wenn wir glauben, sie zu kennen. Wenn wir Aletheia suspendiert haben, ist unser Dispens gleichbedeutend mit ihrem.

Krankheit und Symptom

Jede Ideologie, die als alleinseligmachende Repräsentantin der Wahrheit auftritt, ist eine Krankheit wie die Pest. Fanatismus ist nur die dazu passende Beule – ein Symptom dieser Krankheit.

Geschichtsschreibung

Die Geschichtsschreibung ist Ausdruck politischer Kultur und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, und es ist eine Illusion, daß es in der offiziellen Historiographie so etwas gäbe wie eine lineare Annäherung an die geschichtliche Wahrheit. In Wirklichkeit findet ein ständiges Umschreiben statt und ein Interpretieren von Interpretationen, das letztlich nur noch dazu dient, die Quisquilienverliebtheit einiger weniger zu befriedigen. So wendet man sich vom Beschriebenen ab und verliert sich in Debatten über Beschreibung und Beschreiber. Am Ende dann das Mündungsdelta, wo die Informationen in unterirdische Fußnotenfriedhöfe fließen, zu denen nur noch „ausgewiesene“ Fachleute Zugang haben.