Beziehung und Unabhängigkeit

Das übersteigerte Bestreben nach möglichst vollständiger Unabhängigkeit hat zwar utopischen Charakter, denn der Gedanke, eine solche Unabhängigkeit des einzelnen sei auch nur annähernd machbar, ist eine der vielen Illusionen unserer illusionsgesättigten Gesellschaft, aber dieser weitverbreitete Wunsch höhlt viele Beziehungen zwischen den Menschen aus. Wer niemand anderen mehr zu brauchen glaubt und auch selbst nicht gebraucht werden will, der betrachtet die Beziehungen zu anderen Menschen mehr und mehr als eine Art Dienstleistungs-Konsumartikel. Ebenso wie man ins Kino gehen kann, aber nicht muß, nimmt man eine temporäre Beziehung auf – oder auch nicht. Kommen und Gehen nach Gusto und Belieben. Alles in eigener Verantwortung, aber nur noch für sich selbst. 

Selbstverwirklichung?

Eine besondere Art von Hilferufen ist die, die der Rufer selbst nicht bemerkt: Wer auffällig akzentuiert seine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung betont und sich und andern mit besonderer Eindringlichkeit zu zeigen versucht, daß er ohne fremde Hilfe alles im Griff hat, zeigt damit, daß es nicht so ist und er der Hilfe bedarf. Das Fatale daran ist die Vehemenz, mit der die angebotene Hilfe zurückgewiesen wird, weil man ja ganz eigenständig selbst alles im Griff zu haben sich einredet. Wird der Hilferuf von andern gehört, werden diese als Phantasten betrachtet, und das Hilfsangebot wird ausgeschlagen, das Unabhängigkeitsgehabe verstärkt. Oft endet dies nach anfänglicher Euphorie nicht in der Selbstverwirklichung, sondern in einer heftigen Lebenskrise. In krassen Fällen manchmal dann in der Selbstzerstörung.