Jeder, der einen literarischen Text liest, hat seine eigene Herangehensweise, seine ganz persönliche Lesart. Teilt er Ergebnisse seiner Lesart anderen mit, neigen diese häufig dazu, diese Lesart eines anderen als reduziert und damit minderwertig zu betrachten, weil sie beim andern das Eigene, Widerspiegelungen der eigenen Lesart vermissen. Es ist jedoch ganz natürlich, daß der andere der andere ist. Wenn ich die Gefühle, Erfahrungen und Erkenntnisse anderer nicht teile, dann bin ich ich, aber keineswegs reduziert. Von Reduktion zu sprechen setzt voraus, daß man das Ganze kennt. Aber wer kennt schon das Ganze eines Textes, die dazugehörigen Subtexte, den Prätext aus biographischen Details des Autors, des jeweiligen Lesers und nicht zuletzt die intertextuellen Voraussetzungen? Jeder kennt nur seine Version davon. Daß jemand nun seine eigene Version des Ganzen mit dem Ganzen als solchen verwechselt, verstehe ich, denn die meisten machen das so. So werden sie selbst (in ihrer Vorstellung) zu ganzen Persönlichkeiten, und die anderen werden (ebenfalls in der Vorstellung) degradiert. Diese Mischung aus Aufblasen des Eigenen und Destruieren des andern steckt meist dahinter, wenn einer sagt, ein anderer habe eine reduzierte Lesart. So simpel arbeitet das Ego.
Schlagwort: Texte
Hineininterpretieren
Gerade habe ich zum wiederholten Male gelesen, in Texte könne man vieles hineininterpretieren. Oder auch »hineindeuten«, also, so bezeichnet es das Duden-Wörterbuch: »etw. aufgrund eigener Deutung oder Vermutung in etwas zu erkennen glauben, was in Wirklichkeit nicht darin enthalten ist«.
Die Definition leuchtet mir durchaus ein. Was mir jedoch nicht einleuchtet, ist das dazugehörige zusammengesetzte Stichwort „hineininterpretieren“.
Anders als „hineininterpretieren“ heißt „interpretieren“ erklären, erläutern, deuten, aus einem Text also etwas von dem herausholen, was darin ist. Also herausinterpretieren. Und hinein…? Hineininterpretieren, hineinlesen, hineinprojizieren ist nichts als ein Mißverständnis, denn ein bestimmter Text ist ein bestimmter Text und bleibt genau so, wie er ist. Wir können einen Text lediglich, so wie ich es hier mit dieser Duden-Definition getan habe, für uns selbst in unserem Kopf ergänzend uminterpretieren und dieses anderen mitteilen, indem wir einen Text zum Text verfassen, der diesen ergänzt.
Der ursprüngliche Text bleibt davon unberührt. Niemand kann etwas in einen vorliegenden Text hineininterpretieren. Nicht einmal der Autor selbst.
Schweizer Wörter
Die Lieblingsausrede von Wortkäseherstellern, die auf Widersprüchliches oder andere Ungereimtheiten in ihren Texten hingewiesen werden: Man solle doch bitte „zwischen den Zeilen lesen“, sonst könne man nicht verstehen, was gemeint sei. Ich schaue dann immer gern zwischen den Zeilen nach, finde aber normalerweise nur käseweißes Papier. Es sei denn, es handelt sich um Texte, die in zensurverseuchten Diktaturen geschrieben wurden.
Jeder Verkäufer von Emmentaler würde gern seinen Käse nach Volumen berechnen, weil er meint, die Löcher seien das Wesentliche. Aber aus gutem Grund geht’s doch nicht nur beim Käse, sondern auch bei Texten nach Gewicht.