Starke Frauen

Was zeichnet die moderne »starke Frau« im neueren deutschen Emanzipationsersatzroman aus? Sie wirft den Kopf in den Nacken und rollt mit den Augen, wenn jemand etwas zu ihr sagt, was ihr nicht gefällt.

Das Leben des Schriftstellers

Im Gespräch mit Simone de Beauvoir sagt Jean-Paul Sartre – man unterhält sich über den Ruhm –, ein Schriftsteller, der ein »gültiges« , ein anerkanntes Buch geschrieben habe, werde »ein anderes Leben haben nach seinem Tod«.

Natürlich meint Sartre so etwas wie literarisches Leben, aber das nimmt dem Ausspruch nichts von seiner Komik – oder auch Tragik. Ganz wie man will.

Wenn ich mal wieder in der Nähe bin, werde ich auf dem Cimetière du Montparnasse vorbeischauen.

Jeder oder keiner

Wie merkwürdig, selbst bei einem so gebildeten Mann wie Goethe solch einen gravierenden Logikfehler zu finden:

Kircher hat bei dem vielen, was er unternommen und geliefert, in der Geschichte der Wissenschaften doch einen sehr zweideutigen Ruf. Es ist hier der Ort nicht, seine Apologie zu übernehmen; aber so viel ist gewiß: die Naturwissenschaft kommt uns durch ihn fröhlicher und heiterer entgegen als bei keinem seiner Vorgänger.

Farbenlehre

Das Gegenteil wäre richtig: Fröhlicher und heiterer als bei jedem …, nicht bei „keinem …“ Oder so fröhlich und heiter wie bei keinem …

Zwischen den Zeilen

Viele Leser behaupten, zwischen den Zeilen lesen zu können, was früher so manchen Autor verwunderte, der sich sicher war, nicht zwischen den Zeilen geschrieben zu haben. Mittlerweile sind die meisten Autoren dazu übergegangen, zwischen den Zeilen zu schreiben. Wer allerdings glaubt, eine solcherart veränderte Buchproduktion spare eine Menge Papier (oder Speicherplatz), der sieht sich getäuscht: Die Bücher werden dennoch immer dicker. Wenn die Autoren nicht so fleißig zwischen den Zeilen schrieben, gäbe es vermutlich nur noch Folianten vom Typ „Krieg und Frieden“ in einem Band.

Wichtige Frage

Manchmal gibt es wichtige Fragen zu klären, zum Beispiel die, ob Rilke in seiner Hölderlin-Elegie das Wort Seeen mit drei „e“ geschrieben hat oder nur mit zwei. Tatsächlich mit drei, und das leuchtet mir ein.



Verweilung, auch am Vertrautesten nicht,
ist uns gegeben; aus den erfüllten
Bildern stürzt der Geist zu plötzlich zu füllenden; Seeen
sind erst im Ewigen. Hier ist Fallen
das Tüchtigste. Aus dem gekonnten Gefühl
überfallen hinab ins geahndete, weiter.

Auf Erden gibt es Seen – „Seeen“ sind erst im Ewigen.

Lesen als heimliche Räuberei

Wenn wir einen Schriftsteller beim Lesen beobachten, dann wissen wir nicht, in welchem Grade er das, was er lesend ausdeutet, später schreibend ausbeutet. Ausbeuten wird. Oder ob seine Leseintention die eines Abhörspezialisten oder eines Grabräubers ist. Wenn sie auf dem Weg zu sich selbst sind, sollten Schriftsteller mehr schreibend denken als lesend schreiben.

Manche freilich

Unter der Hofmannsthalschen Überschrift „Manche freilich müssen drunten sterben“ schrieb Walter Boehlich, ein Kritiker in des Wortes eigentlicher Bedeutung, wie er es gern und so manches Mal selbst nicht ganz frei von Fehlern tat, von den „sinnentstellenden Fehlern“ anderer (1972 in der ZEIT). So sei in der Anthologie „Lesebuch“ das Wort „Kriegslastern“ in Hesses „O Freunde nicht diese Töne“ fälschlich mit „Kriegslasten“ wiedergegeben worden. Hesse hatte in dem NZZ-Aufsatz unter dem Beethoven-Zitat von „Kriegstugenden und Kriegslasten“ geschrieben. Wer nun, wie Boehlich, dichotomisch denkt und Tugend und Laster als zwei Seiten einer Medaille betrachtet, der könnte vermuten, Hesse selbst habe ursprünglich „Laster“ geschrieben und nicht „Lasten“. Hat er aber nicht, jedenfalls wenn man der Werkausgabe folgt. Boehlich hätte das nachprüfen und eine möglicherweise ironische Wortwahl Hesses in Betracht ziehen müssen, bevor er von „sinnentstellenden Fehlern“ sprach. Aber manchen freilich werden wohl auch die kritischen Tugenden von Zeit zu Zeit zur Last.

Anbiederungsseuche 

Wollte man großzügig und milde sein, dann käme man zu dem Schluß, die Worte des großen Thomas Bernhard seien so bezwingend, daß sie die Sprache eines jeden okkupierten, der sich beschreibend seinem Werk nähert. Doch wenn man, ganz im bernhardschen Sinne, weniger naiv und rücksichtsvoll ist, dann fällt auf, es ist wie eine Seuche: So ziemlich jeder, der über Bernhard schreibt, beginnt nach kurzer Zeit, sich mit einer dezenten Imitation des repetetiven Duktus anzubiedern, den wir von dem verhinderten Nebenerwerbslandwirt aus Oberösterreich kennen. Und überall kullern die »naturgemäß« aus den Sprachschablonen, daß es nur so kracht. Und selbst dort, wo es augenzwinkernd geschieht, bleibt ein fader Geschmack nach kumpelhaftem Getue und eitler Selbsterhöhung. Gräßlich. 

Phistologie

Faust und MeFistopheles. Ist es nun nur ein ungewöhnlicher Zufall oder ein weiteres Indiz für die ohnehin naheliegendeThese, daß die Figur des Mephistopheles in Goethes Dichtung im wesentlichen ein Teil der multiplen Persönlichkeit Fausts ist – meine Tochter erwähnte bei einem Gespräch über Goethes Figuren beiläufig, Faust heiße im Englischen „fist“. Das war mir zwar bekannt, jedoch bisher hatte ich das im Zusammenhang mit dem „Faust“ nicht beachtet. Was bei Hesse Narziß und Goldmund, zwei Aspekte einer Persönlichkeit, sind bei Goethe Faust und Mephistopheles; bei Hesse namensverschieden, aber bei Goethe ist die Nähe auch in den Namen präsent. Man sollte die Herkunft des Doktor Faustus klären: Vielleicht hatte der geheimnisumwitterte Schwabe Johann Georg Faust englische Vorfahren mit Namen Phist. In jedem Falle ist der Tofel überall dabei.

Kindliche Naivität

Auf die Frage, was sie von Gendersternchen halte, sagte die mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Autorin Strobel, sie verstehe gar nicht, was alle gegen Sternchen hätten, und sprach von den Sternen am Himmel, die ja nun kein Herrschaftszeichen seien und so weiter blabla.

Vielleicht könnte man auch statt des Sterns einen kleinen Mond oder die liebe Sonne nehmen. Meine ich. Oder das kleine Häufchen von WhatsApp, das so schön dampft.

Nun ist es ja so, daß nicht »alle«, sondern nur eine Mehrheit der deutschsprachigen Menschen, die die Sprache in vielfältiger Weise nutzen, etwas gegen solcherart Wörter- und Satzverschandelung haben – und das nicht nur aus in der Sprachwissenschaft allseits bekannten guten Gründen.

Aber Sterne als Symbol von Herrschaftsfreiheit? Ich schaue beim Denken an Sterne als Symbole weniger in den Himmel, an dem wegen der Lichtverschmutzung, vieler Wolken und Gase aller Art ohnehin nicht mehr viele Sterne zu sehen sind. Ich schaue eher auf die Schulterklappen von Uniformen, auf denen mal weniger, mal mehr Sterne als Symbole von Macht und Status ihrer Träger blinken.

Soviel über naive Konnotationsverweigerung und semantische Einäugigkeit.

Es muß nicht immer Kaviar sein

Bisher hatte ich Johannes Mario Simmel stets für einen Trivialschriftsteller gehalten. War er ja auch. Altes Germanistenvorurteil. Doch bisweilen ist das Gute ebenso trivial wie die hartnäckige geschmäcklerische Voreingenommenheit. Nun habe ich mal einen Roman von Simmel nicht nur kursorisch gelesen. Das Vorurteil hatte keinen Bestand. Simmel hat recht: »Es muß nicht immer Kaviar sein.« Das Richtige ist manchmal auch das einfache Gute.

Selbstbegegnung

Nur nicht leugnen das Irren
zähme mit Fragen den Wahn
lösche Glauben zu glauben

sprich mit offenen Augen
wiewohl du niemanden siehst

[Daniel Pagenstecher sagt zu der Übersetzerin Wilma Jacobi, die ihn, »verehrter Titan des Irrthums«, fragt, was er glaubt, wieviel Menschen ihm folgen werden:

»Ich hab schließlich nich blind gelebt … Ich weiß, daß sich fette=99=% der Menschheit, grundsätzlich weit=lieber in den heftigen Bereichen der Leugnung bzw. des Glaubens aufhaltn;(und zwar bezüglich jeder Frage !). Und ein paar »Einzelne wandern schweigend,(oder höchstens in schweren Selbstgesprächen begriffn)«.

Und er fürchtet, sie begrüßten sich nicht mal, wenn sie sich begegnen.

Arno Schmidt, »Zettels Traum«, 6. Buch: »Rohrfrei!«, Zettel 896]

Welthaltigkeit – Teil II

Ursprünglich als Instrument für die Beurteilung der Weltwahrnehmung im Roman gedacht, habe ich einen Kriterienkatalog entwickelt, der sich, wie ich meine, auch auf andere Textsorten anwenden läßt. Die zu Text geronnene Weltwahrnehmung eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin, eines schreibenden Transsexuellen oder eines textproduzierenden Kindes (ich hoffe, niemanden vergessen zu haben) läßt sich folgendermaßen kategorisieren:

Wahrnehmung und Reflexion der Welt als

1. kosmisches physikalisches Geschehen oder Sein (mit Erkenntnistheorie und Grundlagenwissenschaft, Chaostheorie);

2. ökologisch-evolutionäres Naturgeschehen (mit anthropologischer Entwicklung);

3. politisch-sozial organisiertes und verwaltetes Wirtschaftsgefüge (mit Kampf ums Überleben, um Ideologien, Ressourcen, Macht und Status);

4. historisches Ereignis, kulturell-zivilisatorisches Experiment mit Provisoriumscharakter (mit Entwicklung von Mythos, Religion, Ethik und Moral, mit Geschichtsteleologie, Eschatologie, Utopie);

5. als Heimat oder Unbehaustheit der Subjekte (Ort der Gefährdung des einzelnen und Projektionsfläche seiner Wünsche und Spielplatz zur Bedürfnisbefriedigung);

6. als Entität, die auf ein Tieferes hinweist (mit Seins- und Lebensphilosophie, kollektiven Archetypen, morphischen Feldern etc.)

 

Dieses Schema, dessen Kategorien sich in der Praxis ganz unschematisch überlappen, ja überdecken können, beinhaltet, so meine ich, alle möglichen Perspektiven eines Autors, die er einnehmen könnte, um die Welt zu betrachten und zu beschreiben, gleich ob er sie nun, je nach Erfahrung, Status und Blickwinkel, eher als Schädelspaltanstalt, als Experiment mit offenem Ausgang oder als Vorstufe des Paradieses oder der Hölle wahrnimmt.

Ob er ihre Ränder am Spiegelrand überhaupt bemerkt und wie weit er über die Schreibtischecken und die Cappuccinotasse hinaussieht, das ist, mit diesen Kriterien bewaffnet, leicht in Erfahrung zu bringen, und so haben wir schnell eine Antwort auf die Frage nach der »Welthaltigkeit« eines Textes.

Die blöde Böe

Über »Segel auf Butterfly« von Vea Kaiser

Das Lexikon der maritimen Terminologie liegt auf dem Schreibtisch bereit, und das Abenteuer kann beginnen. Nun ja, das Abenteuerchen, denn man steuert nicht aufs offene Meer, sondern, bescheiden, wie man ist, »aufs offene Wasser«, immerhin also keine Fahrt in der geschlossenen Flasche, kein Ritt auf dem Buddelschiff.

Bevor es richtig losgehen kann, muß der Hintergrund beschrieben werden, denn das Ganze soll ja mehrschichtig daherkommen. Also werden im folgenden die Großeltern, aus deren Erbmasse das Segelbötchen stammt, von der höheren Warte jugendlicher Selbstüberschätzung gehörig durch den Kakao gezogen, ihre romantische Lebenseinstellung »enttarnt«. Verhöhnt, sollte man besser sagen. Zu dieser Verhöhnung gehört die Depersonalisierung im sprachwitzresistenten Dümmlichjargon: »Wir dachten, unsere Großeltern wären unkaputtbar«, weil sie nicht, wie andere Alte, »im Lift zu Blut-Lungen- und Stuhluntersuchungen emporgebracht wurden«. (Natürlich wird niemand zu einer Stuhluntersuchung irgendwo hingebracht, sondern das Darmmus ins Labor geschickt, doch woher soll ein junger Mensch das wissen? Und Blut-Lungen-Untersuchungen gibt es ebenfalls nur in der Phantasie von medizinisch Unbedarften.) Aber nein: »Totalschaden an Auto und Großeltern.«

Der Beitrag ist eine Sammlung von Klischees und nichtdurchdachten sprachlichen Bildern (z. B. »Packung Silikonbrüste« statt Kunsttittenfrau als mißlungene Metonymie). Man merkt, wie verzweifelt um den Anschein von Originalität gekämpft wird.

Bei aller demonstrativen Coolness gibt es aber auch »Tränen auf Pfirsichwangen«, Kirschgeruch und pflaumenfarbene und knallpinke Haarentferner und allerlei andere Kitschelemente wie das »Höschen auf dem Kopf« aus dem Handbuch »Wie schreibe ich eine erotische Erzählung?«

Zur Sprache: Das »unkaputtbar« hatte ich bereits erwähnt. »Als wir the first time in meinem Teakholzbett lagen« ist auch nicht ohne, ebensowenig die »ultimative« Traumfrau. Was sollte eine Traumfrau anderes sein als »ultimativ«? Alles schwächelt sprachlich genauso vor sich hin wie inhaltlich. »Urst blöde.« Beinahe schon urkomisch.

Die Erzählperspektive ist: »Ich, die ich«. Das sagt viel. Rechtschreibung und Zeichensetzung mangelhaft. Auch das sagt einiges.

Am Ende der Geschichte wird als Pointenersatz noch ein Filmzitat aus »The Big Lebowski« aufgeboten: Asche wird verstreut. Doch im Gegensatz zum Film nicht aufs eigene Haupt. Und über der kleinmaritimen Szene brennt nur gratwandernd die »gradwandern«de Sonne und weht die »blöde Böe«, aber nicht ein Hauch von Selbstironie. Nicht mal ironisches Fremdeln.

»Welthaltigkeitsfaktor« null Komma fünf von zehn. Es kommen andere Menschen vor, ein Flugzeug wird erwähnt und daß es Hippies (»Sonnenblumenmasche«) gegeben hat.

Selbstironie

Gelegentlich selbstironisch zu sein ist die Ratenzahlung eines Autors für die Versicherung gegen die mögliche üble Nachrede, er nähme sich selbst zu wichtig, und mit diesem Obulus zeigt er, wie wichtig er die andern nimmt. Beides wird er auf Nachfrage selbstverständlich vehement bestreiten und erklären, wichtig sei ihm ausschließlich sein Werk, mit dem er sich voll identifiziere. Ob die Versicherung auch das abdeckt?

Über Benns »Ptolemäer«

Das Leben – dies Speibecken, in das alles spuckte, die Kühe und die Würmer und die Huren –, das Leben, das sie alle fraßen mit Haut und Haar, seine letzte Blödheit, seine niedrigste physiologische Fassung als Verdauung, als Sperma, als Reflexe – und das nun noch mit ewigen  Zwecken garniert …

 

Das ist die Reduktion des Lebens auf das, was übrigbleibt, wenn man die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichem Sein in den Trümmern der Ideologeme und dem idealistischen Denken betrachtet, wenn man sieht, was sich trotz des Kanons der moralischen Werte ereignet hat: Völkerabschlachten. Man mußte 1947 die moralischen Werte nicht mehr in den Mülleimer werfen, denn sie lagen längst darin, und auch wenn sie wieder herausquellen, so sind sie doch auf alle Zeit fragwürdig geworden. Oder richtiger noch: Ihre Fragwürdigkeit trat allen Sehenden vor Augen, aber sie hatten nicht mehr die Kraft, diese zu reiben. Noch Raskolnikow hatte unter seiner Tat gelitten, aber nun war das »moralische Fluidum«, wie Benn das nennt, zur Ruhe gekommen.

Was bleibt für Benn, ist individualistische Ästhetisierung in der Nachfolge Spenglers und vor allem Nietzsches. Benn nennt das prismatischen Infantilismus, Kinderspiele auf Erwachsenenniveau. Auch der Schöpfer, so vermutet Benn, hat nicht mehr vor mit den Menschen als »seine übliche Spielerei«, und das Gerede von der Menschheit ist nichts als Propaganda ohne jede teleologische Relevanz.  

Dem Irrationalen im Sein ist mit dem Denken nicht beizukommen, deshalb wird das Denken nur noch als eine Art mechanischer Zwang wahrgenommen, und es bietet sich für den einzelnen als Aufgabe (in seiner doppelten Bedeutung) der Ausweg, der keiner ist: sich abzufinden und mit Seeblick zu privatisieren. Und das Spiel der Kunst. Soweit Benns verbittertes Resümee.

Zynismus? Oder Wahrheit? Als wären diese Begriffe antonymisch. Was ist Zynismus? Die Antwort auf diese Frage hängt von der subjektiven Interpretation des Fragenden ab, von seiner Definition, die wiederum abhängig ist davon, wie er Wahrheit definiert. Dem Wahrheitsbesitzer ist jede spöttische Abweichung von seiner Wahrheit Zynismus. Erst recht die kritische Dekonstruktion seiner Wahrheitsbasis. In diesem Fall ist man versucht zu sagen, Benn spricht die Wahrheit auf zynische Art und Weise aus. Aber in Wirklichkeit ist es nur bitterer Sarkasmus, den wir hier sehen. Und Benns Wahrheit ist nur seine Wahrheit, so wie meine meine ist und deine deine; denn die alleinseligmachende Wahrheit propagieren nur Lügner, Gläubige und Verblendete.

Wahrheit ist stets perspektivisch, und nur einer könnte all diese verschiedenen Perspektiven zu einem Ganzen zusammenfassen. Das wäre dann die Wahrheit der Wahrheiten. Wir können das nicht, denn wir sind nur kleine Göttchen oder wären nur winzige Schnipsel vom großen Gott, wenn es ihn gäbe. Aber ob es ihn gibt, das wissen wir nicht.

Dynamische Exegese und Hermeneutik

Je älter und bemooster die Überlieferung, die ja nichts anderes ist als eine ergraute Deutung, um so mehr ist sie es wert, durch Umdeutung entwertet zu werden. Doch auch die Umdeutung sollte offen für entwertende Neuinterpretation sein, damit sich nicht erneut der Nebel des Ergrauten über die Betrachtung senkt. 

Krankheiten

Beim Lesen von Thomas-Mann-Texten kam mir der Gedanke, ob sich nur Extremegozentriker mit ausgeprägter Ruhmsucht ausreichend für das Laster der Hypochondrie qualifizieren können, und ich fragte mich, ob nicht Ruhmgeilheit und Anerkennungsverlangen die wichtigste Quelle von Hypochondrie und Egozentrik sein könnten.   

Zum Geburtstag Günter Kunerts

Günter Kunert, einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, wird heute achtzig. In der ZEIT habe ich keine Würdigung wahrgenommen. Habe ich sie übersehen, oder fand man den Geburtstag tatsächlich nicht der Erwähnung wert?

In einem Gedicht Kunerts heißt es:

Wir sind die vor und
hinter Scheiben
gewöhnt die Stille und den
falschen Ton
in einem sicher, daß wir bleiben
dieselben immer
wie uns selbst zum Hohn.

Falsche Töne zu Kunerts Geburtstag gab es in der ZEIT heute nicht.

Lieber Günter Kunert, seien Sie herzlich gegrüßt
von mir und von Neil Young. Sie wissen schon …

Die Welt

PS: Inzwischen ist Günter Kunert neunzig und immer noch präsent. Wie schön. 

Narrative Gedichtinterpretation

Narrative Interpretationsstrategien wie die meine, angewendet auf Alfred Wolfensteins Gedicht »Städter« aus dem Jahr 1914, sind zwangsläufig hochspekulativ und literaturwissenschaftlich in beträchtlichem Maße fragwürdig. Und dennoch sind sie vielleicht näher am Text und wahrhaftiger als so manche akademische Trottelei, die sich in Silbenzählerei und metrischer Scheinanalyse ergeht, vollgestopft mit tropischen Reziprokprojektionen, die nichts sichtbar machen als die scheinbare Gelehrsamkeit des Interpreten und dessen Verinnerlichung der gültigen literarhistorischen Epochenschablonen.