Würde

Was ist das für eine Phantasmagorie, wenn ich, eingesponnen im Netz der Sitten und Gebräuche, gesellschaftlicher Konventionen, von andern beschlossener Gesetze, vollgepumpt mit moralischen Vorurteilen der Kultur, von meiner Würde spreche, von meiner und der Würde anderer, die hauptsächlich darin besteht, den Würdenträgern aller Länder die Taschen zu füllen, Leuten, die neben der Verantwortung die Würde vor sich hertragen (und manchmal auch um den Hals), während die große Masse der Menschen für die wirklichen Lasten zuständig ist? Und damit die Leidtragenden sich nicht allzu traurig und beladen fühlen, gesteht man ihnen, zumindest auf dem Papier, auch eine Würde zu, leicht zu tragen, denn sie sind schon beschäftigt mit anderen Gewichten: Man verleiht ihnen die innere Würde. Und nicht nur diese, sondern gleich auch noch die Würde der Arbeit, sofern diese nicht gegen die guten Sitten verstößt.

Da geht die Arbeit, und sei sie noch so entfremdet, gleich besser von der Hand, wenn der Mensch sie und sich selbst als etwas Würdevolles anstaunen kann. Als wären gerade diese Begriffshalluzinationen vom »inneren Wert an sich« (mit dem an sich hatte es der Königsberger Trockentüftler), von der »Menschheit selbst als eine Würde«, wie Kant das nennt, nicht ein phantastisches Mittel, das Streben des Menschen nach persönlicher Autonomie, die doch die Grundlage jeder wirklichen Würde sein muß, auszuhebeln, dieses Streben, das einzig den Namen Würde verdiente, wäre er nicht schon so sehr in den Schmutz gezogen, daß man ihn ohne Ekel anzufassen sich getraute.

Weil aber die Menschheit selbst als eine Würde gesehen wird, wird diese nun des einzelnen Bürde, denn er hat nach Kant die Pflicht, die »Würde der Menschheit in seiner Person zu bewahren«. Diese Kantsche Autonomie ist jedoch keine tatsächliche Autonomie, sondern die Grundlage der Fähigkeit, »moralische Gesetze frei und selbstbestimmt aufstellen und befolgen zu können«. Und da wir die moralischen Gesetze bereits weitgehend fertig vorfinden – an dieser Stelle ein Dankeschön an die Kirchen und Religionsgemeinschaften –, können wir uns mit unsrer Autonomie vollständig auf die Befolgung der Gesetze konzentrieren. Wenn wir das schön artig und anständig tun und nicht vom Weg abkommen, jedenfalls nicht allzu weit, haben wir das Recht, uns, des Glanzes unserer inneren Würde sicher, ein wenig in die äußere Würdesonne zu begeben. Wir haben Würde, wie schön.

Und wie wir da so liegen auf dem Würdegrill, stellen wir mit einem Mal fest, daß um uns herum lauter kalkige Gestalten zu sehen sind, denen es offensichtlich an Würde mangelt, sei es weil sie ihnen vorenthalten wird, obgleich doch jedem Menschen diese Würde zusteht, sei es weil sie sich würdelos verhalten und damit ihre Würde zu verlieren drohen. Nun stehen wir, falls wir nicht zu sehr mit der persönlichen Würdepflege beschäftigt sind, ein wenig schläfrig zwar, aber doch entschlossen auf und sind ehrlich entrüstet. Und würdevoll, wie wir mittlerweile sind, beginnen wir zu ermahnen. Und wir tun das gerecht: Wir weisen die Unterdrücker der Würde auf den Umstand hin, daß niemand die Akzeptanz seiner Würde vorenthalten, niemandem die Würde abgesprochen werden dürfe, da er sie von Anfang an besitze und nicht verlieren könne, es also sinnlos sei, sie ihm nehmen oder vorenthalten zu wollen – und die Würdelosen ermahnen wir, ihrer Würde gerecht zu werden wie wir selbst, wobei wir freilich vergessen zu sagen, daß sie, ganz gleich wie würdelos sie sich auch immer verhalten mögen, nach unserer Würdedefinition ihrer Würde unter allen Umständen sicher sein können.

Wie man sehen kann, ist der Begriff »Würde« für mich nicht wie für viele andere ein Analgetikum, sondern ein Emetikum. Und ein Absurdikum sowieso.

Diogenes und die Würde

Diogenes von Sinope, der »verrückte Sokrates«, wie Platon ihn genannt haben soll, stand auf dem Marktplatz und onanierte. Einige der Vorbeikommenden lachten, andere waren erzürnt und warfen ihm böse Blicke zu. Einer rief: »Du bist würdelos«, und trat so heftig nach Diogenes, daß der umfiel. 

»Warum versuchst du, mich meiner Würde zu berauben, indem du nach mir trittst«, fragte der Philosoph. «Willst du dich dafür rächen, daß die Konventionen dir deine Würde streitig machen? Da hast du mit mir den Falschen erwischt. Ich scheiß auf die Konventionen. So wahre ich meine Würde, die in meiner Unabhängigkeit besteht.«

Und als der andere nichts sagte, sondern ihn nur unvermindert feindselig anschaute, fügte Diogenes hinzu: »Ist es nicht des Menschen unwürdig, sich zu verstecken und heimlich dem Ruf der Natur zu folgen, in Abgeschiedenheit, durchdrungen von falscher Scham, seine Bedürfnisse zu befriedigen?« Dann rollte sich Diogenes in eine Decke und sagte: »Nun verschwinde, ich möchte ein wenig ruhen. Und wenn du nachgedacht hast über meine Worte, darfst du mich gerne wecken. Ich werde dir zuhören, und wir können über alles reden.«

Kling, klang

Die Konventionen einer Gesellschaft, Gitterstäbe unseres Gefängnisses, zu beobachten, ohne aus diesen Konventionen herauszutreten, ist eine Sache der Unmöglichkeit, und diese Konventionen kritisch zu beschreiben, ohne sie in irgendeiner Weise stilistisch zu durchbrechen, ist ein Ausdruck mangelnder Distanz oder Ängstlichkeit.

Die Konventionen jedoch stilistisch zu durchbrechen, ohne sie kritisch zu reflektieren, ist ein Zeichen von Oberflächlichkeit oder Unreife.

Bewußte Unkonventionalität schlägt nicht an die Gitterstäbe, weil sie glaubt, sie allein könne sie mit ihren Schlägen herausbrechen, ihr geht es um den weithin vernehmbaren Klang. Hört ihr, wie hohl die Stäbe sind?

Der je eigene Sprachgebrauch

In der Wissenschaftssprache, besonders in psychologischen und soziologischen Texten, findet man neben vielen anderen floskelhaften Konventionalismen sehr häufig einen übermäßigen, unreflektierten Gebrauch der Präposition »je«, wenn es darum geht, bei der Betrachtung von Gruppen darauf hinzuweisen, daß jedes Mitglied dieser Gruppe sich in mancher Hinsicht von den andern unterscheidet.

So hat jeder eine »je eigene Sozialisation«, einen »je eigenen Erfahrungsschatz«, einen »je eigenen Sprachduktus«, einen »je eigenen Stil«. Als wäre das nicht eine Selbstverständlichkeit (oder sollte doch zumindest eine sein), wird mit penetranter Überpräzisierung an jeder möglichen und unmöglichen Stelle auf das »je eigene« Individuelle im Überindividuellen hingewiesen. Warum tun so viele Autoren das und negieren so ihre »je eigenen« stilistischen Möglichkeiten? Vielleicht deshalb, weil es die »je eigenen« stilistischen Möglichkeiten in Wirklichkeit gar nicht gibt?

Häufiger präpositionaler Gebrauch dieses »je eigenen« scheint mir neben anderem prägnanter Ausdruck der »je eigenen« Nichtindividualität und eines »je eigenen« mangelndenden Reflexionsvermögens dieser Schreiber zu sein.

Wer vom »je eigenen« der anderen schreibt, sollte sich auch um das eigene »je eigene« kümmern. Aber vielleicht ist gerade das fehlende Bewußtsein des Mangels an »je eigenem« der unbewußte Antrieb, das »je eigene« als theoretisches Postulat so aufdringlich herauszustellen.