Schamgefühl

Es gibt kaum ein Gefühl, das überflüssiger ist als Scham. Selbstkritische Nachdenklichkeit ist weitaus besser und angemessener. Und läßt sich von andern nicht so leicht für deren eigene Zwecke der Machtentfaltung instrumentalisieren. Scham ist ein vorzügliches Mittel der Kontrolle des einzelnen durch die Gruppe, in der er sich bewegt. Wer sich schämt, räumt damit andern das Recht ein, sich selbst auf eine höhere moralische Stufe zu stellen. Schämt man sich – und sei es seiner Scham darüber, daß man sich zu schämen gezwungen sieht –, sollte dies zu möglicherweise schamüberwindender Nachdenklichkeit führen.

Denn wie die meisten andern Gefühle, ist auch das Schamgefühl durch Denken zu beeinflussen, ist Scham doch kein naturgegebenes Gefühl, sondern nichts anderes als Widerspiegelung konventionalisierter gesellschaftlicher Erwartungen. Stellt man diese durch Entwicklung von Selbstbewußtsein in Frage, relativiert sich die Meinung über die Notwendigkeit, fremden gesellschaftlich-moralischen Schamerwartungen gerecht zu werden und diese zufriedenzustellen. In der Folge wird sich das reflexartige Schamgefühl mehr und mehr verlieren, je intensiver man sich klarmacht, daß die Schamerwartung anderer nichts weiter repräsentiert als deren überwiegend unreflektierte, relative Wertvorstellungen, die unüberlegt zu teilen nur dann notwendig ist, wenn man sich außerstande sieht, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln, und die bewußtseinsmäßige Bequemlichkeit vorzieht, sich mit tradierten fremden Normen und Wertvorstellungen zu identifizieren.

Mit der Scham ist es ähnlich wie mit manchen Krankheiten: Sie geben uns eine Möglichkeit zur Flucht, und sie dienen manchmal dazu, Vermeidungshaltungen in unserer Entwicklung zu rechtfertigen. Wenn die Scham nicht in irgendeiner Weise Lustgewinn bedeutete, würde sie nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen – oder gar keine.