Identitätsverschiebung

Noch vor einigen Jahrzehnten galt das antike »Erkenne dich selbst« als das heimliche Ziel alles bewußten Lebens. Diese Art der Selbstfindung wird mehr und mehr abgelöst durch permanente Selbsterfindung, Selbstinszenierung, so daß das lebenslang haltbare Konstrukt eines stabilen Selbst zunehmend in Frage gestellt wird, genauso wie die Notwendigkeit des Blicks nach innen. Wer sich selbst ständig neu erfindet, hat keine Zeit und keinen Raum für Selbsterkenntnis, und es gibt auch keinen Grund dazu, denn das Selbst wird zunehmend zu einer äußeren Funktion des Menschen. Im Innern hallt es nur noch leer, wenn man hineinruft.

Identität und Pose

Wer seine Identität nicht findet, erfindet sich eine Pose, damit auch er etwas vorzuweisen hat. Das ist durchaus legitim, ist es doch in unserer statusverliebten Gesellschaft notwendig, den Anschein genuiner Identität zu erwecken. Die Crux solcher Erfindungsgabe aber ist das schlechte Gedächtnis. Statt die Pose als eine vorübergehend benötigte Krücke zu betrachten und weiter auf Identitätssuche zu bleiben, gibt sich der Poseur mit seinem Krüppeldasein zufrieden und identifiziert sich so sehr mit seiner Pose, daß er vergißt, sie als das zu betrachten, was sie ist: seine Notgeburt; und so richtet er sich in einer stelzenhaften Scheinidentität ein und vergißt seinen Traum vom eigenständigen Laufen.