Ich und Man

Einer ist um so mehr ein Ich, je weniger er denkt, was man denkt. Doch je mehr einer Ich ist, desto komplexer erscheinen die Strukturen dessen, von dem er sich unterscheidend als Ich abzusetzen trachtet. Die Pflege des Man ist also eine Komplexitätsreduktion zur Entlastung des Ich, gleichzeitig destruiert es nach Kräften die Herausbildung eines Ich-Bewußtseins. Dieses Ich-Bewußtsein jedoch ist die Voraussetzung dafür, daß einer stehenbleibt, wenn die Herde davongaloppiert. Ist das Stehenbleiben dennoch einmal gelungen, wird das Ich sehr bald bemerken, daß in seinem Innern etwas zerrt und rumort: die innere Herde.

Den andern verstehen

Hinter dem Wunsch, den andern zu verstehen, steckt häufig die Absicht, uns selbst mißzuverstehen und uns über unsere Tendenz zur Selbststilisierung hinwegzutäuschen. In Wirklichkeit suchen wir im andern nicht den andern, sondern uns selbst. 

Wer sich selbst nicht ohne Selbsttäuschung zu verstehen versucht, versucht auch nicht, den andern zu verstehen.

Das Ich und das Selbst

In einem Gespräch über den Leib malte jemand ein schönes metaphorisches Bild:

Der Leib ist das Orchester und die Organe sind die Instrumente der Seele.
Der Dirigent ist das Selbst.
Der Komponist das unsterbliche ICH.
Die Musik selbst die himmlische Äußerungsform des transzendenten Seins.
Der Zustand des Todes die Stufe zum Belegen neuer Dirigier- und Kompositionskurse.
Der Schlaf das Konzert.
Wachsein das fleißige Üben von Etüden.
Und die Geburt ein wiederkehrendes Debüt mit neu gestimmten Instrumenten.

Ich schlug daraufhin vor, Selbst und Ich auszutauschen. Damit war er nicht einverstanden.

Hier die Begründung meines Vorschlags:

Wo anfangen? Ganz grob vereinfacht: Wie Sie wissen, gibt es mehrere Stränge der abendländischen Philosophie, die, ausgehend von Platon, zu ganz unterschiedlichen Ich-Konzepten geführt und unser Denken über uns und unser Inneres geprägt haben.

Die eine Linie führt über Aristoteles, aber auch Plotin zur Patristik und zu den Scholastikern, natürlich mit vielen Brüchen und Widersprüchen hin zu Descartes und Kant usw., die andere von den Vorsokratikern über Platon/Sokrates mit vielen Zwischenstufen und Richtungen über Kant zu Schopenhauer und Nietzsche, Bergson und Freud.

Daneben gibt es natürlich unzählige andere Konzepte und nicht zu vergessen die Philosophie des Ostens mit Nagarjuna, Laotse usw. Die Ich- Konzepte all dieser Richtungen sind unterschiedlich, und das gleiche gilt für die Vorstellung einer »Seele«. Welches dieser Konzepte wollen wir nun zugrunde legen?

All die Bezeichnungen wie Seele, Ich, Ego, Selbst, Geist, Bewußtsein müssen wir erst einmal definieren, um über die von Ihnen gewählte poetisch-metaphorische Ebene hinauszukommen. Bei diesen Definitionsversuchen werden wir große Schwierigkeiten bekommen, uns zu einigen, da Ihr Denken, wie ich vermute, eher den aristotelisch-cartesianischen Pfaden folgt, während meines wohl stärker von den voluntaristischen und den östlichen Vorstellungen geprägt ist.

Für mich ist das Ich etwas Vergängliches, eine Ausprägung dessen, was ich als Subjekt bezeichnen möchte, das, was alles sieht und von niemandem gesehen wird, und das unvergänglich ist. Das Selbst ist das, was die unterschiedlichen Teile des Ich zusammenhält, das Subjekt-Ich, das Ich-Objekt, also den materiellen Leib, wobei das, was Sie Seele nennen, das Subjekt-Ich ist, das Unsterbliche im Gegensatz zum principium individuationis.

Das Ich ist sterblich, die Kraft aber, die das Ich, aber nicht nur das Ich, sondern alle Erscheinungsformen des Seienden zur Existenz zwingt, ist ewig. Das Ich ist nur geborgt, aber gleichzeitig notwendig, damit das Subjekt seiner selbst in einer Erscheinungsform gewahr werden kann.

Ich hoffe meine kurze, grobe Skizze verdeutlicht Ihnen, weshalb ich die Degradierung des Ich vorgeschlagen habe.

Roman und Persönlichkeit

Kein Mensch läßt sich auf eine einzige homogene Persönlichkeit reduzieren. Dies gilt in besonderer Weise für den Romanschreiber, der davon lebt, diese Tatsache stärker zu reflektieren als der ausschließliche Romanleber. Deshalb gerade gibt es den Roman: damit der Autor seine ganze Schulklasse, die ihm am Hacken hängt, mal toben lassen kann.

Intrinsische Familienaufstellung

Systemische Familienaufstellung kann dazu dienen, herauszufinden, welche »äußeren« Familienkonstellationen (also extrinsische Beziehungen) wir verinnerlicht haben oder uns aufgeprägt wurden, die wir nun musterhaft reproduzieren, womit sie Intrinsizität erlangen und als unsere ureigenen Motive mißverstanden werden können.

Noch viel spannender als das (und der nächste Schritt) scheint mir jedoch so etwas zu sein wie eine intrinsische, eine innere Familienaufstellung, bei der die divergierenden Teile unseres Ichs systemisch abgebildet werden, was in der Folge dazu führen kann, daß wir uns ganz bewußt und mit der nötigen Autorität zum Spiritus rector unseres eigenen Ichs ernennen können.

Zumindest dann, wenn wir die Truppe in den Griff kriegen.

Ich

Wenn wir unser Ich definieren, geschieht das in Abhängigkeit von Erziehung, Denktraditionen und mehr oder weniger wissenschaftlichen Moden. Was ich als mein Ich betrachte, ist, abgesehen von meiner Körperlichkeit, nichts als eine Glaubensfrage. Ich weiß nicht, wer ich bin, ich weiß nur, was ich zu sein scheine. Und du?

Über Selbstwahrnehmung

Es ist nicht nur eine Spezialität des Narziß, sich schöner zu sehen, als er ist. Die Tendenz zur Selbstverschönerung ist eine strukturelle Eigenschaft des Menschen überhaupt. Beim Narziß ist diese Eigenschaft nur hypertrophiert.

Lost Highway

Du siehst dich halb
wenn du dich doppelt siehst
in den Augen
blutiger Begierde
zerteilter Zungen
Fieberwahn

Gegen den gespaltenen Schädel
hilft dir kein Aspirin
und wenn du am Ende der Treppe stehst
im dunklen Licht
beginnt alles von vorn
bevor es endet

Solange du dich
nicht selbst anrufst
bist du gesund
solange du atmest
fallen die Türen
nicht ins Schloß.

Du bist unterwegs
zu ihr
und zu dir selbst

Über Ich-Setzung

Ich-Setzung als Selbst-Definition, genau das ist es, was ich mit Selbst-Täuschung meine. Ich will es mal mit einer philosophischen Anekdote veranschaulichen, die mich immer wieder zum Lachen reizt: Nach seinem Tod fand sich in Schopenhauers Bibliothek das Exemplar einer Fichte-Ausgabe, in der Schopenhauer immer dann einen Stuhl an den Rand gezeichnet hatte, wenn es bei Fichte hieß: »Das Ich setzt sich.«

Klarer und humorvoller kann man den unsinnigen Wunsch des Ich, sich über den ganzen Menschen mit seinem Getriebensein zu erheben, nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Eine Ich-Setzung, die von der Abgründigkeit und Getriebenheit des Menschen abstrahiert, ist nichts weiter als die Schaffung eines Windbeutels mit Über-Ich-Kruste.

Über das Wollen

Jeder möchte tun, was er will. Und er tut, was er meint zu wollen. Dabei geschieht oft, daß er sich selbst und andere durch sein Handeln verletzt. Dann geht er manchmal in sich und versucht herauszufinden, ob er das wirklich will, was er tut, oder ob er nur Impulsen von Teilen seiner Persönlichkeit, seines Egos Ausdruck gibt. Das ist für mich der Beginn der Selbsterkenntnis.

Nichts ist schwieriger, als herauszufinden, was man im Innersten will, denn in uns streiten viele Teile um die Vorherrschaft und versuchen uns einzureden, wenn wir ihren Impulsen nachgäben, täten wir, was wir wollen. Und deshalb wollen wir mal dies und mal das und trudeln durch die Gegend. Wenn wir versuchen, herauszubekommen, was wir wollen, müssen wir tiefer schürfen, und vielleicht finden wir heraus, was wir sollen. Finden heraus, daß das, was wir für unser wollendes Ich halten, nicht wir selbst sind.

Und dann sind wir plötzlich da, wo wir uns erkennen als das, was wir sind, und dann sind wir unser eigener Souverän, der dem Ich sagt, wer der Chef ist, und all die streberischen Impulse als das entlarvt, was sie sind: Zwergenwünsche. Und wenn unser Ich bereit ist, ohne zu murren, sein Sollen zu akzeptieren und sein Wollen als Wünsche zu sehen, dann werden im Wollen auch Wünsche befriedigt, ohne sich selbst ständig zu verletzen.

Aber wenn das Ich nicht bereit ist, diese Beschneidung seiner angemaßten Souveränität zuzulassen, dann wird es zu einem bitteren inneren Kampf kommen. Das erleben wir alle mehr oder weniger.

Ruhiges, klares Handeln ist erst dann möglich, wenn die innere Hierarchie geklärt und akzeptiert ist. Im Innern des Menschen gibt es keine Demokratie.