Zum deutschsprachigen Literaturnachwuchs I (2009)

»Welthaltig«, so Ursula Krechel »… ist dieses Literaturjahr.« Und nicht nur sie sprach vom Welthaltigen. Aber was unter »Welthaltigkeit«, diesem diffusen Zauberwort der Feuilletons, zu verstehen sein soll und ob es mehr ist als ein ausgelutschtes Anforderungstereotyp des Literaturbetriebs, sagte sie nicht, und auf Nachfrage konnte mir keiner derjenigen, mit denen ich am Abend der Preisverleihung beim diesjährigen »open mike« darüber gesprochen habe, mit etwas anderem als einer Ex-negativo-Definition aufwarten: hinausgehen über die Selbstbespiegelung, heraustreten aus dem Persönlichen, Wahrnehmung der Welt jenseits von Zweierbeziehungsdissonanzen.

Der Begriff »Welthaltigkeit« stammt nicht, wie man glauben könnte, von Heidegger (der spricht von »Welterschließung«), sondern wurde wirkmächtig durch die »Theorie des Romans« von Georg Lukács, dem einflußreichen marxistischen Literaturtheoretiker.

Was aber ist welthaltige Literatur? Wo findet sich Welthaltigkeit? Ist es, wie Klaus Siblewski sagt, das Einfügen einer Erzählung in große welthistorische Kulisse, die für Welthaltigkeit sorgt, oder ist es vielmehr die persönliche Welterschließung des Schreibenden, die im Text deutlich wird? Oder kann Welthaltigkeit gar eine Art antikapitalistischer Realismus sein, die möglichst exakte Beschreibung von Nahrungsaufnahme und Verdauung der Zivilisation als einer »alten Sau mit Zahnfäule«, wie Ezra Pound das mal genannt hat? Wäre die Schilderung der Weltreise einer intelligenten Küchenschabe auf einem Bananendampfer ein Zeichen von Welthaltigkeit?

Ursula Krechel und andere haben den Wettbewerbstexten Welthaltigkeit bescheinigt. Ich habe solches trotz großzügiger Definitionsdehnung jedoch nur bei wenigen Texten wahrgenommen. Mir scheint, Welthaltigkeit wird gern mit tatsächlicher oder auch nur vorgetäuschter Weltläufigkeit verwechselt, etwa unmotivierter Anglizismenakkumulation oder exotischer Kulissengestaltung.

 

Nachtrag vom 17. November: Mit Ausnahme der FR ist die Berichterstattung in der Presse weitgehend kenntnisfrei, und überwiegend wird nachgeplappert, was man von Lektoren und Jurymitgliedern aufgeschnappt hat, und freihändig dazugereimt. Den Vogel dabei hat Annabelle Seubert im Tagesspiegel abgeschossen, die mitteilt: »Mahlke und Senkel, die beiden vielversprechendsten Talente dieses Open Mike, fielen durch einfache Dialoge und klare Strukturen auf.«

Mir ist Matthias Senkel dadurch positiv aufgefallen, daß er auf Dialoge gänzlich verzichtet hat.

Noch mal über Geschwafel

Naturgemäß bin ich nicht gegen amüsantes und geistreiches oder zumindest sophistisches Geschwafel … aber das Lächerlichste ist doch der Bierernst, der im Geschwafelgewand daherkommt, sozusagen Karneval der Paragraphenjongleure. Und oft haben sie so viel Poesielikör getrunken, daß sie selbst nicht mehr mitbekommen, wie weit sie sich von zu Hause entfernt haben, ohne die Tür zu öffnen.