Selbst-Enttäuschung

In den meisten Fällen sind wir selbst verantwortlich für unsere Enttäuschungen: weil wir zugelassen haben, daß wir vorgeführt, getäuscht wurden – entweder von anderen, aber immer auch von uns selbst. Wenn wir das bemerken, sind wir sauer auf uns, und diese Selbst-Enttäuschung ist der schmerzhafteste Teil der Enttäuschung.

Gesundes Volksempfinden und gesunder Menschenverstand

»Das gesunde Volksempfinden ist die NS-ideologische Interpretation des gesunden Menschenverstandes«, lese ich bei Wikipedia. 

Das ist ja nun in vieler Hinsicht grundfalsch. Unabhängig von dem Begriff »gesundes Volksempfinden«, der bei den Nazis en vogue war und heute nicht mehr so gern verwendet wird, gibt es natürlich etwas, auf das dieser Begriff rekurriert, denn Begriffe wachsen nicht auf Bäumen, sondern sind Ausdruck eines Verhältnisses des Begriffsschöpfers zu etwas Konkretem oder Abstraktem, dem er eine Bezeichnung gibt. Dieses Etwas ist das, was jeder Begrifflichkeit vorausgeht. 

Verkürzt formuliert, wird hier behauptet, das Empfinden sei Interpretation des Verstandes. Nun fühlt jeder unmittelbar, daß es genau umgekehrt ist. Noch bevor irgendein Datenneuron zu flattern beginnt, war da ein Gefühl. Und alles Denken, aller Verstand zapft die Batterie der Gefühle an, bevor etwas Kognitives zu flackern anfängt. Richtig ist: Der gesunde Menschenverstand ist nichts anderes als zum kollektiven Verstand verdichtetes allgemeines Sittlichkeitsgefühl, eine Art Gefühlssubstrat, das sich als Hirnprodukt ausgibt und seine Herkunft aus der natura archetypa verschleiert. 

Der gesunde Menschenverstand ist das gesunde Volksempfinden in pulverisierter Form. Ein gutes Konzentrat für den Aufguß jeder Ideologie, die um die archetypischen Bilder, die anthropologischen Tiefenstrukturen des Menschen weiß und diese inneren Bildwelten geschickt appellativ in Schwingung bringt.

Xenophobie ist nur eine von vielen möglichen biologischen Determinanten, die so gezielt zu neuem Leben erweckt werden können, wenn sie nicht ohnehin gleichsam autosuggestiv virulent sind.

Und es braucht viel skeptischen Verstand, um den schlimmsten Formen des gesunden Menschenverstands zu widerstehen und ihnen die pathologischen Züge attestieren zu können, die sie leider nicht immer für alle sichtbar auszeichnen.

Gefühl und Verstand

Was auch immer wir über unsere Gefühle sagen, wie wir sie beschreiben, interpretieren, bewerten, welche Schlüsse wir aus diesen Beschreibungen, Interpretationen und Bewertungen ziehen und welche Theorien wir aus alledem entwickeln: Es ist immer unser Verstand, der da spricht.

Deshalb sind wir gut beraten, allen Meinungen über Gefühle mit einem Höchstmaß an Skepsis zu begegnen.

Mißverständnisse

Jede Kommunikation, und sei sie auch noch so aufmerksam und auf Genauigkeit bedacht, ist nicht nur geprägt von Verstehen und Verständnis, sondern in gleichem Maße auch von Mißverstehen, zumindest von partiellem.

Bevor wir miteinander ins Gespräch kommen und uns mitteilen, hat bereits ein internes Gespräch stattgefunden (und findet auch während des Austauschs unentwegt statt), und auch dieses ist mit Mißverständnissen behaftet, denn wer verstünde sich selbst zur Gänze? Der Mischmasch von Gefühlen und Gedanken, der in uns hochsteigt, muß in irgendeiner Weise in Sprache umgesetzt werden, verbal und nonverbal, und dieser Umsetzungsprozeß geschieht zum größten Teil unbewußt und ist mit idiographischen Vorgaben behaftet, die wir selbst nicht durchschauen.

Nichtsdestotrotz gehen wir davon aus, daß der Gesprächspartner uns versteht. Notwendigerweise äußern wir uns in einer Sprache, die auf der einen Seite viel zu ärmlich ist, um komplexe Gefühlswelten darzustellen, aber andererseits vieldeutiger, als es die Wörterbücher der Semantik glauben machen wollen, denn alles steht und fällt mit den konnotativen Bedeutungen des Gesagten, und diese sind nicht so universell, wie von vielen angenommen wird. Von den persönlichen Assoziationsgebirgen ganz zu schweigen.

Und dann gibt es noch die Mißverständnisse, die auf der syntaktischen Struktur der Sprache beruhen, aber das sind die im Gespräch am leichtesten aufzulösenden. Ein Beispiel:

Ich sage: »Gefühle können nicht lügen, aber sie können täuschen. Und wir können unsere Gefühle nicht verstehen oder mißverstehen.« Darauf bekomme ich die Antwort: »Wenn wir sie nicht verstehen und nicht mißverstehen können, wie du sagst, dann wären sie erst mal einfach so, und sie würden irgend etwas mit uns machen, was uns unverständlich bleibt.«

Gemeint hatte ich: Es besteht die Möglichkeit, daß wir unsere Gefühle nicht verstehen, und es kann sein, daß wir unsere Gefühle mißverstehen. Gut, zugegeben, so wie ich mich ausgedrückt hatte, ist der Satz auch anders interpretierbar, als ich ihn gemeint hatte. Aber immerhin ist er mehrdeutig, wenn man genau hinschaut. An der Antwort aber wird deutlich, daß weder meine Intention noch die Mehrdeutigkeit meines Satzes vom Empfänger wahrgenommen wurde, sondern der Satz wurde in der Antwort zu einer gewissermaßen dogmatischen Aussage über das Verstehen von Gefühlen uminterpretiert.

Ob eine solche gleichsam dogmatische Aussage ihre Berechtigung haben könnte, ist wieder eine andere Frage, und nach genauerem Überlegen komme ich zu dem vorübergehenden Schluß, daß es vielleicht tatsächlich so sein kann, daß wir unsere Gefühle nicht verstehen können.

Aber daß wir uns und einander hin und wieder trotzdem verstehen, oder zu verstehen scheinen, grenzt an ein Wunder.

Und hätte ich nicht nachträglich das Reziprokpronomen »einander« in diesem Text eingefügt, wäre das nächste Mißverständnis bereits vorprogrammiert.

So schwierig kann das Verstehen sein.

Augen und Ohren und anderes

Wer hat sich nicht schon einmal verhört oder verguckt? Klar, jeder. Aber was für die Ohren und die Augen gilt, gilt auch für unser Gefühl: Es besteht immer die Gefahr der Täuschung. So real und niemals kritisierbar Liebesgefühle auch sein mögen, sie sind nicht immer verständlich und häufig »unangemessen«, weil wir etwas in den andern hineinzuinterpretieren versuchen, was nicht vorhanden ist. Liebe macht bekanntlich schlechte Augen. Und dann, wenn wir eine Brille zur Hand nehmen, wundern wir uns über das, was wir sehen, und über uns selbst, auch wenn das an unseren Gefühlen manchmal nichts ändert.

Über Gefühle und Entscheidungen

Allem, was wir tun, liegt eine Entscheidung zugrunde, das zu tun, was wir tun, sei uns das nun bewußt oder nicht, sei die Entscheidung eine bewußte oder eine, die wir erst in unserem veränderten Handeln bemerken. Es ist ein Mythos, daß wir uns von unseren Gefühlen leiten lassen, denn die Gefühle entstehen erst in der Folge. Wir können uns erst in einen Menschen verlieben, wenn wir uns entschieden haben, ihn anzuschauen. Wir müssen uns immer erst entscheiden, diesem oder jenem Gefühl Raum zu geben – oder auch nicht. Das alles gilt auch für die Entscheidung, uns nicht zu entscheiden.

Verstand und Verständnis

Verständnis kommt nur sprachlich von Verstand. Wirklich tiefes Verständnis aber kann der Verstand nicht generieren. Verständnis kommt aus dem Herzen. Ein Gefühl.