Glaube und Gesellschaft

Heute ist es bei uns weitgehend gesellschaftlicher Konsens – wenn auch noch nicht immer tatsächliche Praxis von Eltern und Lehrern –,  Kinder zu loben und sie bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit zu unterstützen.

Das ist eine ziemlich neue Herangehensweise. Bis vor kurzem ging es doch bei der Erziehung eher darum, den Kindern elterlichen Willen aufzuzwingen, sie in die vorgefertigten Schablonen gesellschaftlichen Funktionierens einzupassen. Wen interessierte in der Vergangenheit die Entwicklung von Persönlichkeit? Nicht die Eltern, nicht den Staat und schon gar nicht die Kirche. Überall autoritäre, hierarchische Strukturen, in die man hineingezwungen wurde, und auch der allerorten beschworene christliche Glaube war kein Herzensbedürfnis, kein Ausdruck der Sehnsucht, sondern eine aufgezwungene und vielfach nicht reflektierte Selbstverständlichkeit. Das Oben und Unten in der Gesellschaft war klar vorgegeben, und zu dieser Gesellschaft gehörte die Kirche als Erscheinungsform der Macht, vor der man den Rücken zu krümmen hatte. Individualisierung von Glauben war nicht vorgesehen und nicht erlaubt, da schädlich für das Machtgefüge. Gerade deshalb wurden die Mystiker allezeit an den Rand der Kirche gedrängt oder darüber hinaus.

Durch den jahrtausendelangen Zwang zur Unterordnung fällt es den meisten Menschen immer noch schwer, Selbstbewußtsein zu entwickeln, den Glauben an sich selbst. Und so kriechen sie unter bei den Priestern, den starken Männern, den Gurus und Experten. Und wenn eines der traditionellen Heilsinstitute und Daseinserklärungsämter fragwürdig geworden ist, dann wechselt so mancher Glaubensgewohnte zu einem anderen.

Oder zu einem Geldinstitut.

Ziehen am Gras

Klaus Werle schreibt in einem ansonsten ausgezeichneten Artikel im „Spiegel“ , in dem es um den mittlerweile verbreiteten Frühlernwahn geht, mit dem viele Eltern zunehmend versuchen, ihre Kleinkinder noch vor dem Krähen der Hähne in die Startlöcher des Erfolgs zu zerren, das Gras wachse nicht schneller, wenn man daran ziehe. Das ist paßgenau und ein schönes Bild für die Verrücktheit solcher kinderquälerischen Idiotie. Man denkt sich: Fein, der Mann hat Phantasie. Hat er aber nicht, er hat nur im Sprichwörterlexikon (wahrscheinlich online) nachgeschaut, ob er etwas Passendes findet. Und ist fündig geworden. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, so ein afrikanisches Sprichwort. Weshalb, frage ich mich, hat der Herr Werle nicht auf diesen Umstand hingewiesen und so getan, als sei ihm der Satz spontan selbst in den Sinn gekommen? Man wird nicht glaubwürdiger, wenn man derart trickst. Leider greift solcherart Unterlassung mittlerweile ebenso um sich wie das heimliche Ziehen am Gras.

Familiäre Problemverschiebung

Die mittlere bis späte Adoleszenz ist eine spannende, aber auch unangenehme Zeit für viele Jugendliche. Hauptursache ihrer Probleme sind nicht selten die Eltern, besonders die alleinerziehenden. Diese reden sich mit Erfolg ein, ihre Kinder seien außerordentlich schwierig und man müsse sie deshalb erzieherisch auf einen rechten Weg bringen (auf dem man oft selbst nie angekommen ist). Dabei sind die Ursachen der beklagten Übel darin zu suchen, daß die Eltern ein wenig spät dran sind mit ihrer erzieherischen Aktivität und außerdem oft heillos überfordert mit sich selbst: eigenen spätpubertären Anwandlungen, beginnender oder sich bereits der Vollform nähernder Midlife-crisis, Torschlußpanik, Erfolgszwängen und was sonst noch an Damoklesschwertern über ihnen schweben mag. Da kommt der nervige Jugendliche gerade recht, um in die Rolle des Sündenbocks gedrängt zu werden. Und wehe, er spielt nicht mit bei dem Projektionsritual, das daraus entsteht, und durchschaut das Ganze womöglich. Das kann zu Renitenz auf beiden Seiten führen.