Nun sag, wie hältst du es mit dem Charakter?
Die Meinung darüber, ob der Charakter angeboren oder erworben sei, ob man ihn ändern kann oder nicht, wird vom Zeitgeist jeder Epoche unterschiedlich beantwortet, je nachdem, ob der genius saeculi eher optimistisch oder pessimistisch eingefärbt ist und wieviel Zöpfe zum Abschneiden bereithängen. Die Antwort auf diese Gretchenfrage aber hängt in erster Linie davon ab, was man als Charakter bezeichnet.
So wie ich das Wort Charakter verstehe, ist der Charakter eine Konstante, und alle »Änderung« ist entweder Verstellung oder mangelnde Fähigkeit, hinter die eigenen Verrenkungen und Selbsttäuschungen zu schauen. Der Charakter ist für mich so etwas wie psychischer Knochenbau, und meiner hat sich bei genauerer Betrachtung, das heißt nackt vor dem Spiegel und auf Röntgenbildern, seit über fünfzig Jahren nicht geändert. Der eine nicht und nicht der andere. Und wer glaubt, bei andern charakterliche Veränderungen zum Guten oder zum Schlechteren wahrzunehmen, der hat lediglich vorher nicht aufmerksam genug hingeschaut.
Und wie man sich über die Schmächtigkeit manches Menschen wundert, wenn man ihn eines Tages mal ohne seinen mit Schulterpostern aufgemotzten Mantel sieht, so erstaunt uns bisweilen der Charakter anderer, wenn veränderte Lebensumstände alle schmückende Kostümierung abgeschmolzen haben.
Deshalb zeigen sich die meisten am liebsten nur sich selbst nackt vor dem Spiegel. Aber auch das bevorzugt im Dunkeln.