Herzensbildung

Man kann sich Bücher kaufen, aber keine Bildung. Man kann sich Bildung anlesen, aber keine Herzensbildung. Geld kann darüber hinwegtrösten, daß es an Bildung fehlt, Bildung kann darüber hinwegtrösten, daß es an Geld mangelt. Bei mangelnder Herzensbildung gibt es keinen Trost, weder Geld noch Bildung können über mangelde Herzensbildung hinwegtrösten. Zum Glück aber braucht es bei mangelnder Herzensbildung keinen Trost, denn die meisten bemerken diesen Mangel bei sich selber nicht.

Bücherwurm und Bleilaus

Nun habe ich in meinem Leben an die fünftausend Bücher gelesen, und es war mir nicht vergönnt, auch nur einen einzigen Bücherwurm zu finden.

Normalerweise mögen Würmer gern Salat und andere organische Abfälle, von denen es in Büchern jede Menge gibt: Wortsalat, Buchstabensalat, eine Menge Ausfluß und Gedankenmüll in allen erdenklichen Formen. Ja, auch im sogenannten guten Buch treiben sich neben allerlei Fliegendreck, also falschen Kommata, Hurenkinder herum – und Schusterjungs sowieso. Früher, in Bleiwüstenzeiten, gab es auch noch Zwiebelfische en gros. Allein, Würmer habe ich nicht mal in den Büchern gefunden, die ich in der Pubertät von der damals noch jedermann frei zugänglichen Müllkippe mit nach Hause nahm und die sich nach kurzer Zeit in nichts auflösten, auf unerklärliche Weise einfach verschwanden: Kamasutra und Konsorten.

Mit den mysteriösen Bücherwürmern scheint es sich zu verhalten wie mit den legendären Bleiläusen: Jeder kennt sie oder behauptet, sie zu kennen, und tut so, als hätte er, wenn er nur gesammelt hätte, mittlerweile einen Maltersack voll davon auf dem Speicher stehen. Aber wer sammelt schon Würmer und Läuse?

Neulich sagte jemand zu mir, wenn ich fündig werden wolle bei der Suche nach Bücherwürmern, solle ich mal in den Spiegel schauen. Solch ein Unsinn. Seitdem habe ich jedes Buch, das ich lesen wollte, vor den Spiegel gehalten, aber gesehen habe ich nichts, außer der merkwürdig gestalteten Schrift, die die meisten nicht lesen können. Ich aber schon, denn in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es mein täglich Brot, aus einzelnen Buchstaben Druckvorlagen für Bücher und andere Schriftkonglomerate zusammenzubauen, stets mit wachem Auge wegen der Bleilausgefahr.

Was auch immer die Leute, die sich die Begriffe Bücherwurm und Bleilaus ausgedacht haben, damit bezeichnen wollten: Wie es scheint, sind Bücherwürmer, sollte es sie je gegeben haben, in Zeiten der Dateihygiene mittlerweile ausgestorben – und Bleiläuse sowieso.

Über das Lesen

»Lesen macht dumm.« Inmitten all der Bücher im Arbeitszimmer prangt dieses Diktum und lächelt ironisch und süffisant. Und die Bücher lächeln ironisch und noch süffisanter zurück: die guten wie die schlechten. Und Leute, die mich besuchen, tun es ihnen nach, manche lachen gar laut und möchten sich am liebsten wälzen angesichts dieses scheinbaren Widerspruchs.

Auch ich selbst habe gelächelt, als ich diesen Spruch einrahmte und ihm seinen Platz zuwies, denn »Lesen macht dumm« inmitten von Bücherhaufen, das ist schon ein starkes Stück und natürlich Witz und Provokation zugleich. So wird es im allgemeinen aufgefaßt, und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

Doch die eigentliche Bedeutung ist eine andere.

Was tun wir, wenn wir etwas Gedrucktes in die Hand nehmen und zu lesen beginnen? Wir begeben uns in die Gedankenwelt eines anderen Menschen, vollziehen seine Gedankengänge nach, und wenn er gut schreibt, fällt uns das immer leichter und leichter. Und wenn wir viel lesen, gewöhnen wir uns daran, denn es ist einfacher für uns, wenn ein anderer für uns denkt, so wie es weniger anstrengend ist, im Auto zu fahren, als zu laufen. Und so wie dem Vielfahrer das Gehen nach und nach lästiger und mühsamer wird, so geht es auch dem Vielleser mit dem Denken.

Statt lange und ausdauernd selbst zu denken, was ein langsamer und mühsamer, widersprüchlicher Prozeß ist, sucht sich der Vielleser den Lesestoff und verschlingt Buch für Buch und freut sich an den Gedanken, die nicht seine eigenen sind. Und manche Leser verlernen das Denken beim Lesen ganz und gar. Das merkt man spätestens dann, wenn man länger mit ihnen redet und plötzlich feststellt, daß ein anderer aus ihnen spricht; und wenn man weiß, was sie zuletzt gelesen haben, und dieses kennt, dann erkennt man, wie gefährlich das Lesen für die Intelligenz sein kann. Lesen mag bilden, aber es kann mindestens ebensosehr das eigenständige Denken gefährden oder gar unterdrücken.

Das erste Mal ist mir das aufgefallen, als ich nacheinander Parmenides und Heraklit las und beide gleich überzeugend fand, obschon beide Vorsokratiker einen gegensätzlichen Standpunkt vertreten, und erst viel später habe ich mich gefragt, was ich denke. So gebannt und gefangen war ich von ihrem philosophischen Denken. Dieser Vorgang hat sich später noch öfter wiederholt, und so etwas passiert mir auch heute noch, wenn ich nicht größere Denkpausen zwischen den Lektüren einlege und das Gelesene schreibend und dialogisch verarbeite.

Wer die Universitätsmoden einigermaßen genau kennt, kann nach einer Viertelstunde Gespräch ziemlich sicher sagen, wann der Gesprächspartner studiert hat, weil dessen Denken durch die Schriften geprägt ist, die zu seiner Zeit an der Uni gerade rezipiert und nachgeplappert wurden.

Ob es sich dabei um Philosophie handelt, Linguistik oder Literaturwissenschaft, ist ziemlich egal. Ich vermute, daß es in anderen Fächern nicht viel anders ist.

Daraus ziehe ich für mich den Schluß, daß es wichtiger ist, viel zu denken, als viel zu lesen. Und daß man sich Zeit lassen sollte beim Lesen und den Büchern keinen größeren Vertrauensvorschuß geben sollte als Gebrauchtwagenhändlern und Versicherungsvertretern.