Ein Dr. Steffen Graefe sagte in einem Vortrag mit dem Titel »Hermeneutik und Verstehen« so einiges, was ich nicht verstehe. Unter anderem zitiert er Emile Cioran, einen aphoristischen Philosophen und Schriftsteller:
Der Geschmack an der Einsamkeit erfährt nur in dem überwältigenden Todeswunsch vollkommene Erfüllung, der unseren Widerstand übersteigt.
Graefe: »Durch das Wörtchen nur wird der apodiktische, d.h. totalitäre, Charakter dieses Satzes, der eine bloße Behauptung zum Ausdruck bringt, offenkundig. Cioran stellt die folgende Behauptung auf:
Nur wenn ich vom Wunsch nach dem Tode überwältigt werde, soll mein Bedürfnis nach Einsamkeit vollkommene Erfüllung finden. Das ist eine totalitäre Setzung, die keinen Widerspruch mehr zuläßt.«
Ist es nicht tatsächlich so, daß apodiktische Aussagen viel stärker zum Widerspruch herausfordern als trickreich begründete? Der Vorwurf des Apodiktischen ist so gesehen nichts weiter als das Lieblingsverdikt von Argumentationsschwächlingen. Cioran apodiktisch? Offensichtlich nicht, denn wie wir sehen, wird Ciorans These hier widersprochen. Allerdings nur formal. Auf die inhaltliche Aussage des Cioranschen Diktums geht der Autor nämlich im weiteren gar nicht ein. Die Chance, Ciorans Aussage eventuell zu widerlegen, nutzt er nicht. Nur zum Schluß die ebenso falsche wie überflüssige Bemerkung:
»Die bloßen Worte mögen wir aus unseren eigenen diffusen Erlebnissen mit unseren eigenen einsamen Seelenzuständen ein Stück weit nachvollziehen können. Ob sie wahr sind oder nicht – und ob sie in jedem Fall gelten müssen – ist allerdings längst noch nicht erwiesen.«
Als könnten bloße Worte wahr sein. Wie wir alle wissen, gelten selbst naturwissenschaftliche Theorien nur so lange, bis sie widerlegt werden. Und nun sollen Philosophen und Schriftsteller nur noch etwas behaupten, was »erwiesen« ist? Oder sollen sie in Klammern hinter jeden Ausspruch setzen: persönliche Meinung, noch nicht statistisch gesichert, eigene Erfahrung usw.?
Das ist eine merkwürdige Vorstellung von Philosophie.