Das kleine Maß für große Dinge

Neulich schrieb ich etwas über Anthropomorphismus. Tatsächlich habe ich danach nicht mehr bewußt über den Unterschied zwischen anthropomorph und animistisch nachgedacht. Aber in meinem Kopf ging das ohne mein Zutun wohl weiter, denn heute wachte ich mit dem Gedanken auf, das seien nicht zwei verschiedene Bezeichnungen für etwas Ähnliches, sondern tatsächlich Gegensätze. Ein Nachkomme der autochthonen amerikanischen Bevölkerung hatte in meinem Traum einen Baum umarmt, um so um Entschuldigung zu bitten, weil er ihm sein Leben nehmen müsse, um mit seiner Familie in der Wohnstatt nicht zu erfrieren.

Dem liegt ein animistisches Bild der Natur zugrunde. Mensch und Baum sind gleichermaßen belebte Teile der Natur, und der Mensch nutzt seine Macht über den Baum deshalb nur mit Vorbehalt und nur aus der Not heraus.

Anthropomorph dagegen ist die Vorstellung des Gläubigen, Gott habe ihn nach seinem Bilde erschaffen, weswegen Adam das korrekte Bild Gottes im Umkehrschluß entdeckt, wenn er morgens in den Spiegel blickt.

Anthropomorph ist auch das gutgemeinte Handeln der Hundehalterin, die ihren Liebling bei sinkenden Temperaturen in einen selbstgestrickten Anzug steckt, ob es dem vermenschlichten Tier gefällt oder nicht.

Animistische Vorstellungen schließen Pflanzen mit ein, anthropomorphe nicht. (Mal abgesehen von Disney-Filmen für Kinder.) Animismus ist Einfühlung oder mit Einfühlung verbunden, Anthropomorphismus dagen Aneignung, Vereinnahmung im Sinne des protagoräischen Homo-mensura-Satzes.

Man kann den Gedanken, der Mensch sei das Maß aller Dinge, aber auch als Eingeständnis deuten, das anthropomorphe Brett vor dem Kopf verhindere ein wirkliches Sehen.

„Alles ist ein Hauch nur …“

Angeregt durch »Wesen wie wir«, dachte ich heute morgen auf dem Weg zum Bäcker über Anthropomorphisierung nach, über ein Gedicht von Arno Schmidt und über den Willen in der Natur im Denken Arthur Schopenhauers.

Genaugenommen ist diese animistische Art, Leben in seine Umgebung zu bringen, eine natürliche frühkindliche Phase der kognitiven Entwicklung, wie wir von Piaget wissen. Darüber hinaus Bestandteil mancher Naturreligionen und früher, vorchristlicher Religionen. Animismus, der altgriechische ἄνεμος ánemos, Hauch, später dann römisch-lateinisch anima, Seele, ist zwar vom Menschen gedacht, aber nicht anthropozentrisch, denn die beseelten Wesen nehmen nicht menschliche Form an, sind zwar belebt, aber nicht vermenschlicht.

Dazu paßt, daß ein Wille, der ihnen zugesprochen wird, kein individueller ist, sondern ein allgemeiner Wille der Natur, der sich in ihnen offenbart. Und damit sind wir dann bei Schopenhauers Vorstellung vom Willen in der Natur.

So meine Gedanken am Morgen. Und nun beiße ich in die Rosinenschnecke, die es sich in meinem Magen gemütlich machen will. Ihr ist es egal, ob sie dabei ihre Form verliert, denn die hatte sie sich ohnehin nicht ausgesucht.

Das Anthropomorphe in der Schnecke wie im Stuhl ist ganz präsent, hineingebracht durch die lange Hand des Bäckers und des Tischlers. Das Animistische aber finden wir auf einer tieferen Ebene: zumindest in unserer Vorstellung.