14. April 1912

Im Lärm der Lichter
spuckt der Koloß schwarzes Blut.
Der Wind weht Wahnsinn.
Und weiße Hände greifen
nach tausend kleinen Fähnchen.

Ein Stoß, zwei Schreie
und knisterndes Zerfetzen.
Der Wind übt Halbmast.
Und alle Hände greifen
nach Seilen und Schimären.

Nach Sonne schluchzen
rauhreifverbrannte Rosen.
Kein Wind mehr. Stille.
Erstarrte Hände greifen
ins Leere der Äonen.

„Wir sind …“

Das ist ein grundlegendes Problem. Ein Volk, das sein moralisches Handeln und seine intellektuellen Stellungnahmen stillschweigend an öffentliche Personen delegiert, ist mitverantwortlich, wenn dabei etwas schiefgeht und die handelnden Instanzen sich als zumindest partiell inkompetent erweisen.

Erdmann – Szenische Monodialoge 11

ERDMANN verknittert, verläßt das Schlafzimmer, geht zum PC und startet ihn, dann begibt er sich ins Bad.

Nun ist sie also auf
Papier die billige Tinte
mittlerweile zerflossen
aber das war nur die
letzte in der Patrone
da kommt noch was nach

ein ungares Nichtpoem
Wirkung gewaltig das
Ereignis der Woche
des Monats gar
und nun Auftrittsverbot
Winken am Grenzzaun

am besten die Preise
sofort aberkennen
auf Geheiß der Regierung
wie gewonnen so zerronnen
Freiheit der Meinung
nur mit Volldeppendiplom

wahrlich keine Sternstunde
der Dichtung eher eine Art
mißlungene Mülltrennung
schiefe Gedanken
in Krummwörterform
warum also die Aufregung

ungünstiger Zeitpunkt für
Zellenreinigung im Wespennest
so kurz vor der Flugsaison?

Verläßt das Bad, hört ein Summen
Diese blöde Kiste.
Hat sich beim Runterfahren
gestern abend wieder aufgehängt
die ganze Nacht gelaufen
bei den Strompreisen
oder hab ich Trottel im Vorschlaf
nur wieder vergessen
das Ding auszuschalten?

Setzt sich kopfschüttelnd
an seinen Arbeitsplatz.

Wahlklau

Die Berliner Koalition hat nach den Neuwahlen 90 Sitze errungen. Die CDU 52. Und jetzt lese ich, die Regierung sei abgewählt, und „keiner“ wolle die Wahlverlierer mehr. Habe jetzt ich im Matheunterricht nicht aufgepaßt oder nur ein merkwürdiges Demokratieverständnis, oder muß man das eher von den seltsam im Nebel wandelnden Hirnen annehmen, die zuviel „BILD“ und „BZ“ gelesen haben, wo schon vorher von „Wahlklau“ gesprochen wurde?

Wenn die Berliner Bevölkerung einen Wechsel gewollt hätte, dann hätte sie anders gewählt. Aber Berlin ist nicht Spandau. Darauf weist man ja gerade in Spandau gerne hin.

In meinem Kreuzberger Heimatwahlkreis hat die CDU ihren Stimmenanteil sogar fast verdoppelt (von 7 auf 13 Prozent), was vermutlich hauptsächlich daran liegt, daß viele sich dort das Wohnen nicht mehr leisten können. Trotzdem liegt man nach wie vor klar außerhalb der Medaillenränge.

Beute

Der Krieg als Grundform des Lebens im Sinne Heraklits ist vor allem deshalb so beliebt – und das ist tief in den Genen der Menschen eingeschrieben –, weil es beim Krieg, allem ideologischen Begründungsgeschwätz zum Trotz, in erster Linie darum geht, Beute zu machen. Das gilt nicht nur für den Krieg als Metapher, sondern gerade auch für das Drücken auf todbringende Knöpfe.

Erdmann – Szenische Monodialoge 10

ERDMANN verknittert, verläßt das Schlafzimmer, geht zum PC und startet ihn, dann begibt er sich ins Bad.

Wenn einer in den
Spiegel guckt
nach dem Rasieren
hinein ins unverstellte Gesicht
das enthaarte
und hat ein gutes Gewissen
der Höhepunkt des Tages

Das kann er
nicht der Grass
wie er sich auch
dreht und wendet
immer im Weg dieser Bart
und dann das
tägliche Jagen
er hört wieder
die Meute heulen
nun ja rief er nicht laut
Fiffi komm her?
Aber daß so viele …

Grasserei dritte Runde
Jetzt kommt Theater
in die Lyrik
Hochhuth schämt sich
Lange nichts gehört
von Hochhuth gelesen
der lebt also noch
Peymann hat ihn nicht vergiftet
öffentlichkeitswirksam
mit Bühnencurare
nicht auszuhalten
diese Kamerastille
nur der Tinnitus surrt
da kommt er gerade recht
der Grass mit seinen
altersunweisen halb halbweisen
ungegärten Prosaversen

„du bleibst SS-Mann“
raunt der Hochhuth
wohl wissend daß Grass
nie einer war sondern nur
monatelang ein SS-Jüngelchen
oder besser monatekurz
wußte gar nicht
daß die sich duzen
würd ich mir vielleicht verbitten
gegenüber dem Moralisten-
und Mahnerkollegen
ohne Nobeldiplom

in der zweiten Runde
schien Grass schon angezählt
nach der Pariser Backpfeife
Frauen sind sogar
Tiefschläge erlaubt
muß man nicht ernst nehmen
man schlägt nicht zurück
man wundert sich nur
über mancher Leute
musikalische Phantasien
Schlagzeilensucht schadet
zuweilen dem Gehör

was nun als nächstes?
mir wurde berichtet Grass
habe bei seinem Schneider eine
Uniform bestellt und übe
vor dem Spiegel Fuchteln

Auf Bonnies Ranch werden
Betten neu bezogen
Fragt sich nur für wen

Verläßt das Bad, hört ein Summen

Diese blöde Kiste.
Hat sich beim Runterfahren
gestern abend wieder aufgehängt
die ganze Nacht gelaufen
bei den Strompreisen
oder hab ich Trottel im Vorschlaf
nur wieder vergessen
das Ding auszuschalten?

Setzt sich kopfschüttelnd
an seinen Arbeitsplatz.

2012

Laute im Wind

Wo seid ihr alle
stumme Ahnen
ihr Lippen die
die meinen streiften
die früh verfärbten
spät gereiften
wo eure Worte die
mich mahnen

ihr lebt schon
lange in den Lüften
wo still sich
Ewigkeiten queren
wo sich die
Namenslisten leeren
Geruch befreit
von allen Düften

wo seid ihr die
nach Worten suchten
zu füttern die
Wolken die Winde
und heimlich
in Gedanken fluchten
ihr ginget von dannen
wie Blinde

was blieb ist nur
noch Schattentanz
an dunklen Tagen
ohne Glanz

Ohne Groll

Ressentiments sind stets zweischneidige Gebilde, und sie haben gleichermaßen das Potential zur Verletzung des andern wie auch zur Selbstverletzung, besonders dann, wenn es sich um Ressentiments gegenüber vermeintlichen Ressentiments anderer handelt.

Der Außenstehende kann nicht umhin, darüber zu lachen. Ohne Groll. 

Die Farben der Tinte

Da schreibt jemand
ein paar Zeilen Hackprosa
und wirft sie aufs Trottoir
des Boulevards und schon
kommen alle Köter angelaufen
Promenadenmischungen und
solche mit Stammbaum
und heben das Bein
Urinieren als Massenphänomen
wer hat den stärksten Strahl
Joffe oder Broder oder
und alles nur wegen
Versen die keine sind
schon gar nicht satanisch
nur ein paar undurchdachte
Gedanken von einem
der sich in letzter Tinte
versehentlich selbst ertränkt

2012

Gehackte Prosa

Kunststoffgefühle
und vieles dumme Reden
des falschen Wortes Kühle

Feuilletonchefgedanken
der schwachen Lyrik Ranken

fahler Schwall zum bleichen Wort
falscher Spruch am falschen Ort

ein schlechtes Gedicht
Papier mit letzter Tinte
hat kaum ein Gewicht

Monogamie und Beziehung

Viele Beziehungen scheitern. Man ist auf der Suche nach den Gründen. Michèle Binswanger will die Hauptursache gefunden haben: falsch verstandene Treue und Monogamie. Willkommen in den sechziger Jahren. Nur, was damals notwendig war, um verkrustete Strukturen aufzubrechen, wirkt heute ein wenig lebensfremd, weil wir inzwischen in einer Gesellschaft leben, die offener ist und freier als die damalige und die gelernt hat, daß nicht alles, was natürlich scheint, auch wünschenswert und zivilisatorisch integrierbar ist.

Ich finde sie gelinde gesagt merkwürdig, diese Argumentationen, die bestimmte Teile unserer genetischen Disposition anerkennend werten, andere Teile jedoch nicht. Mag ja sein, daß Monogamie eine „junge Erscheinung“ ist. Das gilt aber auch bei der Körperpflege zum Beispiel, da gibt es auch einige „junge“ Erscheinungen, oder bei der Gewohnheit, seinem Gegenüber nicht gleich den Schädel einzuschlagen, wenn uns dessen Gesicht nicht paßt. Auch werfen wir unsere Kinder heute nicht mehr einfach auf den Mist, wenn sie mißgebildet zur Welt kommen. Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch die ein oder andere zivilisatorische Errungenschaft aus.

Ich selbst halte Treue in der Beziehung und damit Verläßlichkeit für wichtig, und deshalb sollten Mann wie Frau sich ordentlich sexuell ausleben, bevor sie eine richtige Bindung eingehen. Und man sollte sich einen Partner suchen, der auch sexuell zu einem paßt – nicht nur in bezug auf gesellschaftliche Stellung, Image und Bankkonto, wie das gern gemacht wird.

Aber die Wegwerfgesellschaft, die sich durchgesetzt hat, wirkt sich auch auf Beziehungen aus. So wie man alle naselang ein neues Auto zu brauchen glaubt oder andere Novitäten, so meint man auch etwas zu verpassen, wenn man nicht jede Gelegenheit zum Fremdvögeln wahrnimmt. Das, was man hat, weiß man nicht mehr wirklich zu schätzen. Das ist der Fluch der Überflußgesellschaft, der in überzogenen Ansprüchen und Erwartungen kulminiert, was der Hauptgrund dafür ist, daß so viele Beziehungen kaputtgehen.

Moral

Naturgemäß sind moralische Vorstellungen kulturell tradiert und damit in hohem Maße relativ, abhängig von den gewachsenen Strukturen der Gesellschaften, in denen sie sich manifestieren. Das heißt jedoch keineswegs, alle diese Vorstellungen, Normen und Gewohnheiten hätten in gleichem Maße ein Recht auf Akzeptanz. Sosehr ich die Herkunft meiner eigenen Moral reflektiere und sie damit zumindest in Teilen in Frage stellen mag, so bin doch ich selbst es, der moralische Pflöcke in den eigenen Boden treibt und dafür sorgt, daß diesen für alle sichtbar gesetzten Maßstäben so weit wie möglich Geltung verschafft wird und dem entgegenstehende Vorstellungen so abgewertet werden, wie sie es verdienen. Trotz der ungesicherten Herkunft und Geltung moralischer Normen dürfen wir in unserer täglichen Praxis keine moralische Indifferenz zulassen. In der Theorie muß das Phänomen Moral jedoch von allen Seiten intensiv beleuchtet, und deren Erscheinungsformen dürfen selbstverständlich auch radikal in Frage gestellt werden.