Naturgemäß sind moralische Vorstellungen kulturell tradiert und damit in hohem Maße relativ, abhängig von den gewachsenen Strukturen der Gesellschaften, in denen sie sich manifestieren. Das heißt jedoch keineswegs, alle diese Vorstellungen, Normen und Gewohnheiten hätten in gleichem Maße ein Recht auf Akzeptanz. Sosehr ich die Herkunft meiner eigenen Moral reflektiere und sie damit zumindest in Teilen in Frage stellen mag, so bin doch ich selbst es, der moralische Pflöcke in den eigenen Boden treibt und dafür sorgt, daß diesen für alle sichtbar gesetzten Maßstäben so weit wie möglich Geltung verschafft wird und dem entgegenstehende Vorstellungen so abgewertet werden, wie sie es verdienen. Trotz der ungesicherten Herkunft und Geltung moralischer Normen dürfen wir in unserer täglichen Praxis keine moralische Indifferenz zulassen. In der Theorie muß das Phänomen Moral jedoch von allen Seiten intensiv beleuchtet, und deren Erscheinungsformen dürfen selbstverständlich auch radikal in Frage gestellt werden.
Phil_Sophie schreibt am 24.03.2012 um 16:39 Uhr:
Es geht m.E. nicht ausschließlich um Moral. Ich denke, den Begriff Moral darf man in Sachen Akzeptanz nicht alleine stehen lassen. Vielmehr geht es um die Frage der Menschlichkeit. Was ist menschlich und folglich moralisch vertretbar. Jede Zivilisation, jede Gesellschaft hat eine andere Vorstellung davon, was menschlich und letztlich moralisch vertretbar ist. Die kulturellen Unterschiede lassen Differenzen erschwert aufkommen. Es ist für uns moralisch und ethisch nicht vertretbar, dass im Islam Frauen gesteinigt werden oder nach wie vor die spiegelnde Strafe vorherrscht. Für uns eine Form der mittelalterlichen Justiz, in der der Judex Secundaris noch Hand anlegte. Da stand die Frage der Akzeptanz nicht im Raum, somit moralisch vertretbar, damals jedenfalls. Wir haben in 500 Jahren dazugelernt und die anderen werden dies auch tun. Dahin geht m.E. die Akzeptanz, auch diesen Menschen Zeit geben zum Lernen um irgendwann einmal die gleichen moralischen Vorstellungen zu haben wie wir.
Alcide schreibt am 24.03.2012 um 20:35 Uhr:
Humanismus und Aufklärung haben in Europa einen wesentlichen Anteil daran, dass wir Moral nicht unbedingt in Verbindung bzw. Abhängigkeit von Religion/Ideologie denken… Es sind Begriffe wie ‚Würde‘, ‚individuelle Selbstverwirklichung‘, ‚Glücksstreben‘, die ich für eine großartige Errungenschaft zivilisatorischer Entwicklung halte (auch wenn sie bei uns an ökonomische Voraussetzungen gebunden sind), und hinter die ich nicht mehr zurückgehen wollen würde.
Unfassbar z.B. dass Sklaverei bis vor einigen hundert Jahren noch als völlig legitimes Konzept betrachtet worden ist. Auch von kirchlicher Seite übrigens: weil ja Gott jedem seinen ihm gemäßen Platz zuweist… Gerade deshalb würde ich den Begriff Moral gerne aus dem religiösen Zusammenhang lösen, weil damit immer eine Vernebelung und Verzerrung verbunden ist… mir gefällt da eher ein pragmatisch-utilitaristischer Ansatz: wo wird Glück bei möglichst vielen Menschen vermehrt, wo wird Wachstum, Lebensfreude, Miteinander, Kooperation gefördert, das ist für mich moralisch gut… wenn es uns verblendet, in Ideologien zwingt, manipuliert, für das ‚Große Ganze‘ abrichtet, zu Selbstaufopferung und Hass aufstachelt, dann ist das für mich moralisch verwerflich… ganz auf Wertung zu verzichten, hieße für mich auch auf Vernunft zu verzichten…
Lyriost schreibt am 24.03.2012 um 20:59 Uhr:
Mir geht es in diesem Falle tatsächlich um genau das, was ich beschreibe: meine eigene Moral. Diese kollidiert nicht nur mit der in islamischen Ländern vorherrschenden, sondern in weiten Teilen auch mit der meiner Nachbarn oder mit der von Fundamentalisten jeglicher Couleur, mit der von Neonazis oder mit der von gesetzlich legitimierten Mördern, wie etwa gerade wieder in den USA, wo so ein Spinner einen Teenager abgeknallt hat, weil der die falsche Jacke anhatte, und das Ganze tatsächlich im Einklang mit den Gesetzen. Auf solche Gesetze ist geschissen, und die sind nicht besser als extremer Schariaquatsch mit Steinigung und ähnlichen Monstrositäten.
Wer hat im Laufe der Jahrhunderte dazugelernt? Ein Blick in die Geschichte, auch die jüngere, zeigt, wie es um Moral bestellt ist. Moral ist gerade auch in den sich besonders moralisch gebenden Gesellschaften vielfach Fassadenblinklicht. Moral-Getue. Es geht um Geld und Macht. Nach wie vor.
Tatsächlich unterscheiden wir uns bereits in der Alltagsmoral, in unseren Handlungen des täglichen Lebens oft fundamental voneinander. So rücksichtslos, wie viele Menschen miteinander umgehen, so rücksichtsvoll, wie wieder andere das tun – in ein und derselben Gesellschaft –, das schafft eine innerkulturelle Differenz, die nicht genug betont werden kann. Wir sind sehr unterschiedlich, auch in moralischer Hinsicht, aber im Ernstfall pfeifen die meisten auf jede Moral und vergöttern ihr albernes Ego, da sind sie sich wieder einig.
Weder glaube ich an so etwas wie Kollektivmoral noch daran, daß alle „irgendwann einmal die gleichen moralischen Vorstellungen haben wie wir“. Welche sind das denn? Ist es nicht vermessen zu glauben, die eigenen moralischen Vorstellungen wären so weit entwickelt und so toll, daß der Rest der Menschheit „irgendwann“ mal einen solch hohen Stand erreichen könnte.
Nein, Moral ist relativ, aber ich setze meine Werte selbst und vertrete sie gegenüber anderen. Ob die das beeindruckt oder nicht, das ist nicht meine Sache.
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Sehr richtig, meiner Meinung nach
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Dieses Thema ist nach wie vor von hoher Relevanz, auch mehr als zehn Jahre später. Alltägliches überlebt sich, Moral sollte es nicht tun. Zumindest nicht in dem Maß.
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Alltägliches überlebt sich, Moral wandelt sich, leider manchmal auch zu alltäglicher Doppelmoral.
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