Manche freilich

Unter der Hofmannsthalschen Überschrift „Manche freilich müssen drunten sterben“ schrieb Walter Boehlich, ein Kritiker in des Wortes eigentlicher Bedeutung, wie er es gern und so manches Mal selbst nicht ganz frei von Fehlern tat, von den „sinnentstellenden Fehlern“ anderer (1972 in der ZEIT). So sei in der Anthologie „Lesebuch“ das Wort „Kriegslastern“ in Hesses „O Freunde nicht diese Töne“ fälschlich mit „Kriegslasten“ wiedergegeben worden. Hesse hatte in dem NZZ-Aufsatz unter dem Beethoven-Zitat von „Kriegstugenden und Kriegslasten“ geschrieben. Wer nun, wie Boehlich, dichotomisch denkt und Tugend und Laster als zwei Seiten einer Medaille betrachtet, der könnte vermuten, Hesse selbst habe ursprünglich „Laster“ geschrieben und nicht „Lasten“. Hat er aber nicht, jedenfalls wenn man der Werkausgabe folgt. Boehlich hätte das nachprüfen und eine möglicherweise ironische Wortwahl Hesses in Betracht ziehen müssen, bevor er von „sinnentstellenden Fehlern“ sprach. Aber manchen freilich werden wohl auch die kritischen Tugenden von Zeit zu Zeit zur Last.

4 Antworten auf „Manche freilich

  1. Hermann Hesse, Gesammelte Schriften, Siebenter Band (1957): Betrachtungen und Briefe, hat Seite 44 klar „… was ich damals, als Knabe, unter Krieg sowohl wie unter Kriegstugenden und Kriegslastern verstand …“ Da Hesse zur Zeit der Drucklegung dieses Bandes noch lebte, darf man den Text wohl als authentisch betrachten. Der Artikel „O Freunde, nicht diese Töne!“ ist übrigens gerade heute, in Zeiten dieser unglaublichen und empörenden Drangsalierung russischer Künstler, einfach weil sie Russen sind, unbedingt zur Lektüre empfohlen. Kein Künstler in der weiten Welt wird herausfordernd um Stellungnahme zu Putins Krieg gebeten, ausschließlich die russischen: weil sie Russen sind. Sippenhaftdenken. Abscheulich. Hesse 1914: „… betrübende Zeichen einer unheilvollen Verwirrung des Denkens …“ (wie oben S. 45)

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  2. Dagegen steht: „Meine Arbeit über dies Thema beruhte auf keinerlei Erfahrung und fiel
    entsprechend traurig aus, und was ich damals, als Knabe, unter Krieg sowohl wie unter Kriegstugenden
    und Kriegslasten verstand, stimmt nicht mehr mit dem zusammen, was ich heute so nennen würde.“
    (Hermann Hesse, Gesammelte Werke in 12 Bänden, werkausgabe edition Suhrkamp 1970, Band 10, S. 411.)

    Andere Quelle:

    Klicke, um auf I%c3%9fler-Kopiervorlagen.pdf zuzugreifen

    Ich glaube zudem, daß Knaben, wie damals Hesse einer war, eher dazu neigen, den Krieg als Last zu sehen denn als Laster. Über Laster sprechen vielmehr Psychologen und Kleriker.

    Leider habe ich keinen Zugang zum NZZ-Archiv.

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  3. Das ist mehr als sonderbar und verdient eine Nachprüfung. Ich weiß nicht, ob oder inwieweit die Werkausgabe von 1970 neu aus den Quellen erarbeitet worden ist, habe in meiner privaten Bibliothek nur die Ausgabe von 1957, die lange Zeit als kanonisch galt, inzwischen aber wahrscheinlich durch „Sämtliche Werke“ von 2001-2007 überholt worden ist. Alle drei Ausgaben sind selbstverständlich bei suhrkamp erschienen. Bleibt nichts anderes übrig, als bei der nächsten passenden Gelegenheit in der Bibliothek die neueste Edition nachzuschlagen, mit der Hoffnung, dass der Editionsbericht über diese Stelle Auskunft gibt. Ich bleibe dran und melde mich, wenn ich was gefunden habe.
    Dies gesagt, bleibt jedoch festzuhalten, dass der Urdruck in der Neuen Zürcher Zeitung tatsächlich „Kriegslastern“ hat. Volker Michels, der auch die Werkausgabe von 1970 herausgegeben hat, bringt auf Seite 108 seines hübschen Bandes „Hermann Hesse: Leben und Werk im Bild“, insel taschenbuch 36, 2. erweiterte Auflage 1973, den Anfang des Artikels aus der NZZ im (verkleinerten) Faksimile, und da kann man mit Hilfe einer guten Brille klar und deutlich lesen „… und was ich damals, als Knabe, unter Krieg sowohl wie unter Kriegstugenden und Kriegslastern verstand ,,,“ Das muss natürlich die Lesart „Kriegslasten“ nicht falsch machen, denn es ist möglich, dass Hesses Manuskript diesen Wortlaut hatte, der dann vom Setzer oder der Redaktion bewusst oder irrtümlich verändert wurde. Jedoch ging die bedeutende historische Wirkung nicht von dem Manuskript, sondern von diesem Zeitungsdruck aus, der ja in der Folge vielfach zitiert wurde.
    Dass Hesse zur Zeit der Niederschrift ein Knabe war, beruht auf einem Missverständnis. Er erzählt zwar von einem Schulerlebnis, das er als Knabe hatte, war aber zur Zeit der Niederschrift 37 Jahre alt. Ich entsinne mich, ohne jetzt eine Stelle angeben zu können, dass in der „Kriegsfackel“ zahlreiche Zitate sich finden, die von „Kriegslasten“ reden, damit waren natürlich die finanziellen Lasten gemeint. Allerdings kann der Ausdruck zum Zeitpunkt von Hesses Artikel, also unmittelbar zu Kriegsbeginn im August 1914, noch nicht allgemein im Umlauf gewesen sein, wenn auch das Wort alt ist, das DW führt ein Beispiel aus Opitz an.
    Recht betrachtet, haben beide Figuren „Kriegstugenden und Kriegslaster“ und „Kriegstugenden und Kriegslasten“ etwas für sich, die erstere die antithetische Fügung, die zweite die Überlegung, dass zu den Kriegstugenden ja auch die Haltung gehörte, die Lasten geduldig zu tragen. Es ist aus der Stelle selbst nicht mit Sicherheit zu ermitteln, was gemeint sein könnte. Bis zum Beweis des Gegenteils muss vermutet werden, dass die von Ihnen zitierte Werkausgabe von 1970 sich bei der Änderung des weithin bekannten Textes etwas gedacht haben muss.
    Wie gesagt, ich bleibe dran.

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  4. Ja, vielen Dank. Das wird sich jedoch wahrscheinlich nur in Verbindung mit einer Reise nach Marbach klären lassen, wenn überhaupt. Solche Quellenprobleme sind gar nicht so selten, und auf einer etwas niedrigeren Ebene nehmen sie zu, weil manche Buchautoren sich an dubiosen Orten im Netz bedienen, wenn sie ein paar schöne Zitate zur Verzierung ihrer Bücher zu brauchen glauben. Auch sind manche Verlage nicht sonderlich sorgfältig, wenn es um Texte auf ihren Websites geht. Eins meiner letzten Erlebnisse mit unterschiedlichen Quellen: https://hajo-stork.com/2020/11/23/brecht-und-die-geliebten/

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