Erdmann – Szenische Monodialoge 16

ERDMANN verknittert, verläßt das Schlafzimmer, geht zum PC und startet ihn, dann begibt er sich ins Bad.

Der Typ da im Spiegel
der guckt mich wieder so blöd an
kannst du auch anders?
Nee, kann er nicht
jeden Tag älter und faltiger
auf dem absteigenden Ast

also ehrlich, das geht
so nicht weiter
ich fordere ein
anständiges Morgengesicht
notfalls muß der Spiegel
ins Geschehen eingreifen

ach ja, fordern und eingreifen
die Deutschen sind ja
immer so gegen Krieg
und gegen Nationalismus
immerhin waren sie es
bis vor kurzem
keine Waffen in Krisengebiete
jedenfalls nicht ohne
Ausreden und Umwege

und immer wehrhaft gegen
nationalistische Tendenzen

neuerdings sieht man das
aber lockerer

angesichts der Bitten
der lupenreinen ukrainischen
Demokraten um Waffen
und um Beteiligung
am dritten Weltkrieg

ach nein, es sind ja
keine Bitten
nur Loser bitten um etwas

Selenskyj fordert
weltweit dies und das
tagtäglich von Deutschland
Waffen von Israel Waffen
von der NATO Eingreifen
durch Flugverbote
von der EU sofortige Aufnahme
von der Schweiz Sanktionen
gegen russische Gelder
erhebt Vorwürfe und fordert
weitere Unterstützung
gegen die lupenreinen
demokratischen Brüder
aus Russland
und fordert und fordert
von allen alles
oder doch von vielen vieles
und die Art wie er das tut
könnte man emotionale Erpressung
durch Erzeugung von
Schuldgefühlen nennen

und ein Herr Melnyk
Andrij, Träger eines
geschichtsträchtigen Namens
was aber nichts heißen muß
der hat Übung im Fordern
als Botschafter eines
Landes mit drei Prozent
Anteil an erneuerbarer Energie
hatte er doch schon 2018
gefordert von der
deutschen Regierung
eine Energiewende durch
Importstop von Gas und Kohle
aus Rußland, Öl sowieso und
Rußland ein Ultimatum
zu stellen, um die
sofortige Freilassung von
ukrainischen Marinesoldaten
zu erzwingen
jetzt fordert er
neben Waffen und Waffen
und Munition
eine Regierungserklärung
von Bundeskanzler Scholz
und von der ZEIT
eine Berichterstattung
über ukrainische Rechtsradikale
die näher an den
offiziellen Propagandavorgaben
der Ukraine liegt

was nicht gefordert wird
ist Hilfe für die Menschen
die vor dem Krieg fliehen
merkwürdig

aber erwähnt werden
sie schon mal
wenn es um die
rechte oder richtige
Gesinnung geht
so lehnt die ukrainische
Generalkonsulin Iryna Tybinka
eine Integration der Flüchtlingskinder
ins deutsche Schulsystem ab
taugt wohl nichts
wahrscheinlich zu liberal
ohne richtige Feindbilder

nun bin ich niemand
der zum Fordern neigt
aber ich wünsche mir bei uns

ein bißchen weniger
Propaganda als
in Rußland
und weniger Nationalismus
im Patriotenzwirn
und etwas mehr
Ehrlichkeit

und keine Selenskyjstraßen
vor russischen Botschaften
und auch keine
Bandera-Denkmäler bei uns
wir haben unsre
eigenen Faschisten

und etwas weniger
Heldenverehrung wäre schön
der Präsident der Ukraine
auf das Angebot
sich evakuieren zu lassen
er bleibe und brauche
keine Mitfahrgelegenheit
so wird zitiert
zeigt Mut und Größe
findet der Herr
Röttgen im Radio

wäre ja auch komisch
wenn der Präsident
das nicht täte
hat ja selber angeordnet
kein Mann zwischen 18 und 60
also auch kein Mann
in seinem Alter
darf das Land verlassen
das ist bekannt
auch Memmen müssen kämpfen
und diese dummen
Kriegsdienstverweigerer und
Pazifisten
denen das eigene Leben
wichtiger ist
als irgendeine Ideologie …

Verläßt das Bad, hört ein Summen

Diese blöde Kiste.
Hat sich beim Runterfahren
gestern abend wieder aufgehängt
die ganze Nacht gelaufen
bei den Strompreisen
oder hab ich Trottel im Vorschlaf
nur wieder vergessen
das Ding auszuschalten?

Setzt sich kopfschüttelnd
an seinen Arbeitsplatz.

Katastrophe

Schock: Bei ALDI kostet die 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser jetzt 25 Cent. Werden wir alle verdursten? Das las ich gerade unter der Überschrift »Bei Aldi gehen die Preise durch die Decke«. Nein, nicht die Frage las ich, nur die Information zur Preiserhöhung.

Vermutlich werden aber viele Menschen hierzulande tatsächlich innerlich austrocknen, wenn sie nicht so klug sind, auf Leitungswasser umzusteigen oder im Gartenhaus und im Keller eine Monatsproduktion Bitteres der lokalen Brauerei gelagert haben. Auf Dauer hilft das jedoch nicht, denn dann werden sie eben verhungern, denn 400 Gramm Biohack kosten jetzt 3 Euro 99, also 40 Cent mehr als im Vorjahr. Nun ja, wer kauft schon Biohack?

Die Deutschen geben durchschnittlich zwar nur etwa zehn Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus und liegen damit auf dem letzten Platz in der EU, aber beim Stöhnen über die Zumutungen des sich wandelnden Lebens liegen sie ganz vorn.

Verrückt

Komisch, spätestens ab dreißig will keiner mehr so recht älter werden und sträubt sich, wo er kann. Aber mit großer Begeisterung werden Geburtstage gefeiert. Manche mieten Säle oder gar Hallen an, um großartig zu feiern, daß sie ein Jahr älter geworden sind. Die Leute sind verrückt.

Hyperbolische Litotik

Einer gelungenen Hyperbel merkt man die Übertreibung nicht an, vielmehr nährt sie den Verdacht, es handle sich um eine litotische Aussage, etwa wenn man von einem Kurzdenker sagt, er halte sich für beinahe so intelligent wie Albert Einstein oder so schlau wie Helmut Kohl.

Die Geburt des Humors

Aller Humor beginnt, wenn sich der Spaß einen seriöseren Namen verdienen will, damit, daß man sich morgens im Spiegel erblickt. Wer dabei ernst bleibt, der wird nur mit Mühe zu echtem Humor gelangen und sich meistenteils mit Blödelei über andere begnügen müssen.

Der Mann in der Natur

Wann ist der Mann ein Mann? Wenn er die Männlichkeit anderer in Frage stellt und glaubt, durch Kernseife und Büschel unter den Armen würde einer kernig, dann ist er von Maskulinität weit entfernt, und wenn er sich fragt, was Frauen männlich finden, und sich deren Männlichkeitsbildern anzunähern trachtet, dann ist der Mann kein Mann mehr. Auch zuviel Marlboro-Reklame, die immer noch im Kopf rumspukt, kann schädlich sein.

Die Natur ist weiblich und fühlt, daß sie will, aber sie weiß nicht so recht, was sie will. Deshalb probiert sie so vieles aus. Der Mann ist dabei nichts besonders Erwähnenswertes. Was die Arterhaltung betrifft, so ist die Natur durchaus bereit, die eine oder andere Art, die sich aus ihrer Sicht nicht bewährt hat, aufzugeben.