Utopie als Heilserwartung

Wenn die chiliastischen Vorstellungen, die allen religiösen Fata Morganen zugrunde liegen, säkularisiert werden, entsteht als weltliche Variante die politische Utopie. Beide speisen sich aus eschatologischen Auffassungen von der Geschichte als Verwirklichung eines Telos.

Das führt zum Streben nach Tausendjährigen Reichen und ist das Gegenteil von Freiheit. Gesellschaftliche Utopie begreift den einzelnen lediglich als Hülle einer Entelechie und nicht als individuelles Wesen. Das ist der Grund, weshalb politische Utopie, sobald man mit ihrer Verwirklichung beginnt, rasch menschenfeindliche Züge annimmt und manchmal in Barbarei endet. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, wird die Heilserwartung zum Unheil.

Weit entfernt davon, den Begriff der Utopie ungebrochen positiv zu sehen, aber durchaus kein Mensch ohne Phantasie, Visionen und Idealvorstellungen, möchte ich darauf hinweisen, daß auch und gerade totalitaristische Weltherrschaftsträume in utopischen Vorstellungen wurzeln, ebenso der Wahn von der technischen Beherrschung der Natur, den man abgeschwächt und modifiziert auch bei Denkern findet, die nicht ohne weiteres dem Totalitarismus zugeordnet werden können. Oder die Betonwüsten vieler Großstädte, sie sind, gewachsen aus dem Samen utopischen Bauhausdenkens, das, was von theoretischen Idealen übrigbleibt, wenn sie zu gesellschaftlicher Praxis werden.

Blickend über die Dächer von Berliner Altbauten, freue ich mich, in einem ebensolchen Gebäude zu wohnen. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Auffassungen über Hygiene und Lichtdurchflutung, wie über Wohnqualität ganz allgemein, und genau da ist der Kern der Verwirklichung utopischer Visionen: Bisher haben alle mir bekannten gesellschaftlichen Utopien bei ihrer Umsetzung die Neigung entwickelt, sich über unterschiedliche Auffassungen, die nicht mit denen der »Erfinder« solcher Modelle übereinstimmten, nonchalant hinwegzusetzen. Auch darüber, was tatsächlich gesellschaftlicher »Fortschritt« ist und was nicht, läßt sich trefflich streiten. Solange das Streiten noch erlaubt ist.

Es liegt mir fern, Visionäre für die mißlungene Umsetzung ihrer Visionen verantwortlich zu machen, ich möchte lediglich zu bedenken geben, ob nicht vernünftigerweise beim Visionieren bedacht werden sollte, wie Menschen seit Menschengedenken sind und daß der »neue Mensch«, den man bei vielen dieser optimistischen Visionen einfach voraussetzt, bei der Umsetzung utopischer Konzepte nicht von selbst aus der Erde wächst.

Utopische Vorstellungen einer gerechten und schönen Welt unterscheiden sich wesentlich, sind Idealvorstellungen unterschiedlicher Individuen, und die Utopie des Spießbürgers ist eine ganz andere als die des Ästheten, und beide wenden sich vielleicht mit Grausen ab, wenn sie mit der gesellschaftlichen Utopie eines Dritten konfrontiert werden, selbst wenn es nicht der utopische Bauernstaat von Pol Pot ist.

Der Mensch braucht Utopien, um sich darüber hinwegzutäuschen, wie er tatsächlich ist, und er braucht Utopien, die stets das Gute wollen, auch wenn sie meist das Böse schaffen, um nicht zuletzt auch seine Bosheit zu rechtfertigen, die der eigentliche Antrieb ist, der ihn in Schwung bringt und der ein Teil von jener Kraft sein soll, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, wie Goethe noch hoffte.

Hat der Mensch eine Vision, so gießt er anschauliche Abbilder davon, abstrahiert diese zu Buchstaben und formt daraus eine Ideologie, deren es bedarf, um vorzutäuschen, man wolle eine Utopie verwirklichen. In Wirklichkeit strebt man nur nach Macht über die andern. Die Utopie des Esels ist eine Gesellschaft, in der ein andrer seine Lasten trägt: Utop-ia.

Heute, in einem scheinbar nachutopischen Zeitalter, da die utopischen Vorstellungen vom »Absterben des Staates« und »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« geräuschvoll auf der Deponie der Geschichte abgefackelt wurden, sind nur noch die Utopien der Marktes geblieben, die Träume des Kapitals. Aber auch diese utopischen Blütenträume werden mittelfristig immer weniger Menschen die Nächte erhellen und spätestens dann enden, wenn die Lebensgrundlagen in Klump gehauen sind.

Man muß schon mit Hegel an die Vernunft der Geschichte glauben, um die Unvernuft der Geschichte zu übersehen, die man durch den Glauben an die Vernunft der Geschichte erst hervorgebracht und nach Kräften gefördert hat.

Politische Utopien sind der Stoff für Menschheitsbeglücker, die die Menschheit (angeblich) in eine leuchtende, schattenlose Zukunft führen wollen – notfalls mit Gewalt. Ich bin eher bescheiden, gebe mich mit Licht und Schatten der Gegenwart zufrieden und zünde hier und da eine Kerze an.

Ein anzustrebender Zustand wäre einer, an dem keine Veranlassung mehr bestünde, utopische Vorstellungen zu entwickeln. Doch ein solcher Zustand ist – leider – Utopie.

4 Antworten auf „Utopie als Heilserwartung

  1. Gretchen schreibt am 20.04.2010 um 17:07 Uhr:
    Hallo, Lyriost. Die Barfüßigkeit des Lebens allein ist schwer zu ertragen, darum benötigen wir etwas, um gut darin laufen zu können. Die Reichen haben ihr Geld, die Mächtigen ihre Macht und die Armen die Hoffnung – was immer man darunter verstehen mag.

    Wie hälst Du es mit der Hoffnung? Ist das „Himmelreich“ bzw. das „Reich Gottes“ für Dich eine Utopie, Gedankenspinnerei?

    In meinem Garten hat der Frost zugeschlagen, bei Dir auch? Muß viel Neues pflanzen.

    Liebe Grüße
    Gretchen

    Lyriost schreibt am 20.04.2010 um 19:48 Uhr:
    Hallo, Gretchen,

    ja, ich hoffe, daß ich morgen keine Kopfschmerzen habe, wenn ich aufstehe. Ansonsten wenig. Ans „Himmelreich“ glaube ich nicht. Utopie, natürlich.

    Der Frost kommt nicht mehr, es ist zu geschützt hier, 20 Meter über dem Boden. Alles wächst prächtig. Tut mir leid für dich; war es denn so kalt, oder hattest du nur verwöhnte, supersensible Pflänzchen?

    Gruß

    Gretchen schreibt am 20.04.2010 um 20:55 Uhr:
    Natürlich wegen des langen, kalten Winters. Sogar der gemeine Efeu bekam großflächig etwas ab. Aber das wird wieder alles gut werden.
    Offensichtlich lebst Du in einer Wohnung eines mehrstöckigen Mietshauses – in einer Großstadt? Ja, da ist es wärmer als auf dem Land.
    Im vorigen Jahr waren die Schäden nicht so schlimm wie in diesem . so ist die Natur.

    Wünsche Dir ein kopfschmerzfreies Schlafen und morgen ein ausgeruhtes Aufstehen, Lyriost.

    Grüße
    Gretchen

    Gretchen schreibt am 20.04.2010 um 21:23 Uhr:
    huhhhhh .. Mach mal ’nen Punkt, aber dann bitte sehr groß weiterschreiben, Gretchen! Sorry, Lyriost

    „So ist die Natur.“

    Gretchen schreibt am 20.04.2010 um 21:30 Uhr:
    Warum Kommata Sinn machen: „Mach mal ’nen Punkt, aber dann, bitte sehr, groß ..“

    Zuweilen bin ich ’ne blinde Kuh, entschuldige bitte meine Fehler, Lyriost.

    Gutes Nächtle
    Gretchen

    Lyriost schreibt am 20.04.2010 um 22:03 Uhr:
    Nun sei mal nicht so penibel. Danke dir. Ich wünsche auch dir einen erholsamen Schlaf.

    Ly

    Aquarius schreibt am 20.04.2010 um 22:32 Uhr:
    Trotzdem: Gäbe es keine Vision, keine Utopie, wo wäre dann der Fortschritt auf seinem Weg nach Neuem geblieben?

    Unbreakable schreibt am 20.04.2010 um 22:38 Uhr:
    Neues? Ja, wo isses denn?

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  2. Luther und Marx, zwei leuchtende Beispiele und schön, dass du wenigstens von Utopie redest und nicht von Dystopie wie das so modern ist.

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  3. Dein Text spricht für sich.

    Wenn du etwas nicht verstehst, so ist das nicht mein Problem. Ich schreibe, wie ich denke. Das darf ich doch, oder soll ich mich mit einem fremden Kopf und einer anderen Sprache zu verbiegen versuchen, damit du mich verstehst? Wie soll das gehen?
    Und wenn du dasselbe in drei Sätzen sagen kannst, weshalb tust du es dann nicht?

    Niemand ist gezwungen, das zu lesen, was ich schreibe. Ist das nicht schön?

    Wenn Dummköpfe etwas sagen, was einem nicht gefällt, und dann auch noch recht haben, dann ist das besonders bitter, das verstehe ich gut.

    Aber wozu die Beleidigungen? Nicht daß mich das sonderlich störte. Ich weiß ja, daß du erst mal lernen mußt, etwas wie Stil in deine Konversation einzubeziehen. Das wird schon. In ein paar Jahren wirst du dich für manches schämen, was du jetzt so von dir gibst. 😉

    PS: „Mal Gadamer gelesen?“ Stell dir vor, ich war in den achtziger Jahren sogar an der Herstellung der dreibändigen Taschenbuchausgabe beteiligt.

    (Dieser Text bezieht sich auf vielerlei beleidigendes Gerede eines milchzähnigen Mondkalbes, dessen Großvater ich sein könnte und das meint, seine Botschaften aus dem Kinderzimmer wären etwas anderes als bedauernswerte Selbstdemontage.)

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