Glaube und Gesellschaft

Heute ist es bei uns weitgehend gesellschaftlicher Konsens – wenn auch noch nicht immer tatsächliche Praxis von Eltern und Lehrern –,  Kinder zu loben und sie bei der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit zu unterstützen.

Das ist eine ziemlich neue Herangehensweise. Bis vor kurzem ging es doch bei der Erziehung eher darum, den Kindern elterlichen Willen aufzuzwingen, sie in die vorgefertigten Schablonen gesellschaftlichen Funktionierens einzupassen. Wen interessierte in der Vergangenheit die Entwicklung von Persönlichkeit? Nicht die Eltern, nicht den Staat und schon gar nicht die Kirche. Überall autoritäre, hierarchische Strukturen, in die man hineingezwungen wurde, und auch der allerorten beschworene christliche Glaube war kein Herzensbedürfnis, kein Ausdruck der Sehnsucht, sondern eine aufgezwungene und vielfach nicht reflektierte Selbstverständlichkeit. Das Oben und Unten in der Gesellschaft war klar vorgegeben, und zu dieser Gesellschaft gehörte die Kirche als Erscheinungsform der Macht, vor der man den Rücken zu krümmen hatte. Individualisierung von Glauben war nicht vorgesehen und nicht erlaubt, da schädlich für das Machtgefüge. Gerade deshalb wurden die Mystiker allezeit an den Rand der Kirche gedrängt oder darüber hinaus.

Durch den jahrtausendelangen Zwang zur Unterordnung fällt es den meisten Menschen immer noch schwer, Selbstbewußtsein zu entwickeln, den Glauben an sich selbst. Und so kriechen sie unter bei den Priestern, den starken Männern, den Gurus und Experten. Und wenn eines der traditionellen Heilsinstitute und Daseinserklärungsämter fragwürdig geworden ist, dann wechselt so mancher Glaubensgewohnte zu einem anderen.

Oder zu einem Geldinstitut.

Drei Anmerkungen zu René Weilands philosophischem Essay »Wenn Philosophie vom Denken abhält«

Unter dieser durch ihre Paradoxie ins Auge hüpfenden Überschrift kann man einige Thesen und Behauptungen lesen, die mich nicht nur nicht vom Denken abgehalten haben, sondern vielmehr zum Formulieren von Anmerkungen angeregt.

Weiland schreibt, allerdings ohne vorher zu sagen, was er unter denken versteht, man höre allenthalben, denken habe etwas mit dem Stellen von Fragen zu tun. »Was aber nun, wenn es genau andersherum wäre, wenn denken antworten hieße …?« So fragt er, und das setzt seinen und auch meinen Denkapparat in Bewegung. Das erste, was mir einfällt: Denken hat natürlich ebenso mit fragen zu tun wie mit antworten: ein dialektischer Prozeß, der zu immer neuen Fragen und Antworten führt.

Tatsächlich frage ich mich hier: Was will er uns damit sagen? In diesem Fall, so scheint es, ist die Frage das entscheidende Auslösemoment des Denkens. Gewissermaßen das Ei. Wohin dieses Denken führen wird, ob zur eierlegenden Henne, wissen wir noch nicht, es sei denn, die Frage war nur eine rhetorische, weil der Herr Weiland sich vorher überlegt hat, wohin seine Frage führen soll, und nur so tut, als ob es tatsächlich eine auf Erkenntnis zielende Frage wäre. In diesem Fall ist eine solche Frage tatsächlich eine der »Antworten … die wir in Form von Fragen auszusprechen bloß aufschöben«: Inszenierung einer These?

Sofort denkt man an an die sokratische Hebammenkunst, von der wir nicht wissen, ob sie tatsächlich eine bildhafte Eigenbezeichnung von Sokrates ist oder nur eine schöne Erfindung von Platon.

Und richtig, genau darauf will Weiland hinaus und beschäftigt sich im Folgenden mit der »sokratischen Fragemethode« und spricht dabei von methodischer Verstellung, dem absichtsvollen Sich-dumm-Stellen, dem ironischen Gestus, der verletzend sei und den Ironiker zum einsamen Menschen mache.

Nur übersieht der Kierkegaard-Kenner zweierlei, nämlich, daß er, wie mancher andere, wenn er von sokratischer Ironie spricht, mehr von der retrospektiven Phantasie Kierkegaards redet als vom historischen Sokrates, von dem wir ohnehin nur wenig wissen, außer dem, was Platon uns erzählt. Und zweitens scheint sich Sokrates mit seiner Methode zwar einige Feinde gemacht zu haben, aber durchaus nicht einsam gewesen zu sein,wenn man der Überlieferung Glauben schenkt, die viele Freunde und Schüler bezeugt, die ihm im Gefängnis beistanden und ihn vom Trinken des Schierlingsbechers abzubringen und zur Flucht zu überreden versuchten. Soviel zur Einsamkeit des Ironikers.

Zu Sokrates nur noch eines: Was, wenn, wie ich glaube, Sokrates gar kein Ironiker war, sondern lediglich außerordentlich skeptisch, wenn es ums Wissen ging, und zwar nicht nur das der anderen, sondern vor allem auch das eigene, und sein Ausspruch »Ich weiß, daß ich nicht weiß« kein Spruch war, sondern seine innere Überzeugung? Dann wäre die Mäeutik nichts weiter als eine uneigennützige pädagogische Methode, um andere zum vorsichtigeren Denken anzuregen.

Das zweite, was mir auffiel, ist die Behauptung, »Philosophie, emblematisch eingesetzt, wehrt freies Denken geradezu ab«. Ist es nicht vielmehr so, daß gerade solcherart Philosophie durch ihre monumentalische Erscheinung zum Widerspruch herausfordert, gar zum Lachen reizt und zum Nachdenken darüber, wie sie zu destruieren sei? »Zu glauben, daß, wer denkt, sich notwendigerweise mit den sogenannten großen Fragen beschäftigt …« – es folgt eine Aufzählung von Fragen, die der Autor für große Fragen hält, etwa die nach dem Sinn des Lebens oder die nach Gottes Existenz –, bedeute, die anderen, kleineren, zu überhören. Interessanterweise werden hier keine Beispiele von kleineren Fragen genannt, vielleicht weil auch der Autor sie überhört hat oder weil er sich nicht sicher ist, ob sie nicht eventuell große sind, wer weiß. Ich selbst bin der Meinung, seit dem Vorsokratiker Protagoras und den viel späteren mißglückten Gottesbeweisen in der Geschichte der Philosophie ist die Frage nach der Existenz Gottes keine ernstzunehmende Frage mehr, wenn es überhaupt je eine gewesen sein sollte. Und die Frage nach dem Sinn des Lebens kann erst sinnvoll gestellt werden, wenn der »Sinn« von Sinn, was immer das sein mag, geklärt ist. Ähnlich ist es mit der Frage nach Wahrheit, die tatsächlich die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit ist. »Und was ist Gerechtigkeit?« Die Frage nach der Gerechtigkeit ist keine philosophische Frage, sondern eine gesellschaftliche: eine moralische, soziologische, psychologische, bestenfalls theologische …

Zum Schluß ist dann noch die Rede vom »Aufgabencharakter unseres Seins« und davon, daß wir uns die Zeit schaffen, »unsere Aufgabe zu erfüllen«. Mag sein, daß wir eine Aufgabe zu erfüllen haben – wie der Held in einem idealistischen Entwicklungsroman oder derjenige, der wie Hegel meinte, man müsse mit Hilfe der Philosophie Gott zu begreifen versuchen – oder auch teleologisch indifferent agieren, was wahrscheinlicher ist. Wir wissen es nicht. Ganz wie Sokrates.

Sinn und Form

Transzendenz und Immanenz


Beim Gespräch um die Konkretion utopischer Vorstellungen geht es mir nicht so sehr um die Frage, ob unsere Heilserwartungen mit transzendenten Entitäten verknüpft werden, sondern ich frage mich, ob der Hauptfehler nicht darin liegt, überhaupt utopische Vorstellungen zu hegen und zu pflegen (die lt. Erbschein aus dem Nachlaß des monotheistischen Dreigestirns stammen), statt klar, realistisch und ohne Illusionen auf Menschen und Welt zu schauen. Mit einer Rückprojektion von Heilserwartung in den Bereich der Immanenz ist doch noch nichts gewonnen, vielmehr werden damit lediglich chiliastische Vorstellungen säkularisiert.

Kriege zur Durchsetzung weltweiter paradiesischer Zustände kann man auch ohne priesterlich vermittelten göttlichen Beistand hervorragend führen. Bei der Verkündung des Marschbefehls in eine glückliche Zukunft für alle braucht es nur schöne bunte Uniformen, die davon ablenken, daß nur für wenige diese Zukunft in die Gegenwart ragt. Die Uniformträger werden sicherlich nicht zu diesen wenigen gehören.

Intelligenz

Warum finden wir keine Spuren von außerirdischer Intelligenz im All? Die Antwort ist denkbar einfach. Um Intelligenz zu erkennen, die von dem abweicht, was wir für Intelligenz halten, braucht es Intelligenz. Vielleicht erbarmt sich mal einer von denen, die unser Treiben auf der Erde beobachten, hört auf zu lachen, macht den Monitor aus, legt die Erdnußflips weg und schreibt uns eine nette Ansichtskarte mit Absender.

Säkulare Ethik

Die christlichen Morallehren haben sich als unzureichend erwiesen, die Schlachthöfe auf der Erde zu schließen und den Menschen ein verträgliches Miteinander schmackhaft zu machen, die Bergpredigt wird als Sonntagsrede betrachtet und nicht ernst genommen, und weder der Koran noch die Thora können dazu beitragen, die Quellen zu schließen, aus denen Menschenverachtung und Boshaftigkeit sprudeln wie Geysire. Ganz im Gegenteil: Fundamentalisten aller Glaubensrichtungen und Schattierungen graben die Hackebeilchen aus und wollen den Menschen ihre Moralvorstellungen notfalls mit Gewalt in die Köpfe transplantieren, und wenn die Köpfe nicht willig sind, dann werden sie eben abgeschlagen.

Was will man dem entgegensetzen? Keine Frage, wir brauchen eine säkulare humanistische Ethik, die locker über alle Fallstricke hinausschreitet und mit ihrer Schönheit und ihrer vollkommenen Gestalt ganz ohne Missionierung alle Welt beeindruckt und binnen kürzester Zeit universelle Gültigkeit erlangt, noch bevor die überall tickenden Zeitzünder abgelaufen sind. Doch woher soll eine solche Ethik kommen, wo ist das Fundament, auf dem sie sicher stünde, unangreifbar und für alle gleich gültig und von allen gleichermaßen akzeptiert? Wir selbst können uns ein eigenes Wertesystem schaffen, das nicht theonom ist, sondern seine Grundlagen in unserem Weltwissen, unseren Erfahrungen und Gefühlen hat. Dabei sind wir frei, in religiösen Vorstellungen wurzelnde Werte eklektisch in unser System zu übernehmen oder auch nicht.

Genau das tue ich. Die Frage ist nur: Weshalb sollte das jemand anderen interessieren? Wie allgemeingültig kann eine solche private Ethik sein? Und wenn wir überzeugt sein sollten, daß unsere säkulare Ethik – die sich wahrscheinlich von Fall zu Fall wenn nicht grundlegend, so doch zumindest en détail unterscheidet –, daß diese Ethik besser geeignet wäre als Überkommenes, um das Leben der Menschen zu erleichtern und Schlimmes zu verhüten, wie wollen wir das andern dann vermitteln, ohne selbst als Prediger und Missionar eines neuen Vernunftglaubens aufzutreten?

Dabei werden wir vermutlich schon genügend Probleme haben, uns selbst zu überzeugen, denn ein solides Fundament für eine universelle Ethik zu finden oder zu gießen (Stahlbeton sollte es schon sein), das ist gar nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick erscheint.

Verschmähte Liebe

von: Lyriost   Kategorie: Gedichte

Verschmähte Liebe

Das Mondschaf stand allein im Feld
und fühlte sich im Stich gelassen:
„Bleib bei mir, Schäfer, du, mein Held?“
Es konnt sein Unglück gar nicht fassen.

Den Schäfer konnte das nicht rühren,
das dumme Schaf war nicht sein Fall –
ging in die Stadt, Bordelle inspizieren,
war lieber Hahn im Hühnerstall

Leben

Bei BLÖD online soeben gelesen, dicke Überschrift: »Bekommen Geimpfte heute ihr Leben zurück?« Da frage ich mich: Schon vor dem Tod? Dann hätte jeder Geimpfte zwei davon und müßte sich – was allerdings möglicherweise lehrreich und keineswegs ein Fehler wäre – überlegen, welches davon das richtige ist.

Urteil und Meinung

Da gibt es jemanden, der eine Rezension oder zumindest eine urteilsgesättigte Leseerfahrung zum Besten gibt, in der er einen Roman zwar nicht als durchweg schlecht bewertet und sogar ein Teillob ausspricht: »Es ist eine leichte Kost mit vielen köstlichen Stellen und mancherlei Trivialitäten.« Nun habe ich selbst das Manuskript des Buchs vor etwa zehn Jahren gelesen und jetzt darauf hingewiesen, daß ich wenig von einer solchen Bewertung vom hohen Roß herunter halte.

Darauf schrieb er, wenn er gewußt hätte, daß er sein Urteil begründen müsse, hätte er sich Notizen gemacht. Ich schrieb, man müsse stets damit rechnen, zur Begründung seines Urteils aufgefordert zu werden, im Bereich der Justiz gebe es überhaupt kein Urteil ohne Begründung.

Darauf schrieb er mir sinngemäß, es müsse reichen, was im Wörterbuch als Definition von Trivialität zu lesen sei; wenn es danach gehe, müsse auch ich mein Urteil begründen. Nun hatte ich zwar gar kein Urteil abgegeben, sondern lediglich meine Meinung kundgetan, aber was soll’s, ich war gern bereit, diese Meinung noch etwas ausführlicher zu erläutern. Leider las ich aber nun unter seiner Begründungsaufforderung folgenden Hinweis: »Kommentare geschlossen“.

Was soll man dazu sagen?

Es muß nicht immer Kaviar sein

Bisher hatte ich Johannes Mario Simmel stets für einen Trivialschriftsteller gehalten. War er ja auch. Altes Germanistenvorurteil. Doch bisweilen ist das Gute ebenso trivial wie die hartnäckige geschmäcklerische Voreingenommenheit. Nun habe ich mal einen Roman von Simmel nicht nur kursorisch gelesen. Das Vorurteil hatte keinen Bestand. Simmel hat recht: »Es muß nicht immer Kaviar sein.« Das Richtige ist manchmal auch das einfache Gute.

Hohn, Spott, Häme

Was unterscheidet den Hohn vom Spott? Der Spötter putzt sich die Zähne, bevor er zubeißt. Der Hämische dagegen ist ein Spötter mit schlechten Zähnen und mangelhafter Mundhygiene: Zähneputzen lohnt bei ihm nicht mehr. Manchmal kauen die Letztgenannten auf Pfefferminzgummi rum. Riechen tun sie trotzdem.

Schnipp, schnapp

Die Guillotine wird diese Woche wohl den christdemosozialen Zwerghahnenkampf beenden. Die Frage ist nur, ob das CDU-Oberhaupt sich freiwillig unters Rasiermesser begibt oder von den eigenen Leuten druntergezerrt wird.

Und ob anschließend der kleine Fisch versucht, den großen zu schlucken. Für Außenstehende sehr amüsant.