Seitdem das Teppichklopfen, bei dem der Mensch seine verborgene Wut ausagieren konnte, durch den technischen Fortschritt aus der Mode gekommen ist, hat die Zahl der Verbalballerer deutlich zugenommen. Heute klopft man nicht mehr Teppiche, heute klopft man Sprüche.
Tag: 10. Dezember 2020
Spätrömische Dekadenz
Betrachtet man die Geschichte der Dekadenz, so war diese zu allen Zeiten – auch und gerade im alten Rom – eine Sache der Arbeitslosen. Arbeitslosigkeit verführt geradezu zur Dekadenz. Der Arbeitslose möchte nicht mehr in einer bescheidenen Stadtvilla wohnen, es zieht ihn in einen repräsentativen Marmorpalast. Ein Arbeitsloser, der nur über zehn bis zwanzig Sklaven gebietet, wird von anderen Arbeitslosen milde belächelt, und wer gar in einem kleinen Badezimmer in simples Wasser steigt, statt sich von Bediensteten zum Milch- oder Sektbad ins eigene Badehaus geleiten zu lassen, ist ein gesellschaftliches Nichts. So war das im alten Rom, und so ist das noch heute. Die Dekadenz der römischen Nichtstuer wurde dem Römischen Reich zum Verhängnis, es ging vor allem zugrunde an der Gier der beschäftigungslosen Reichen, der Jagd nach dem persönlichen Vorteil, mangelndem Gemeinsinn, verbunden mit Prunksucht. Insofern ist die neoliberale Gesellschaftsentwicklung eine Entwicklung in Richtung Neodekadenz. Nur das mit dem Prunken muß noch etwas verbessert werden. Der Maserati Quattroporte – auch mein Lieblingsfahrzeug – als Dienstwagen eines Sozialarbeiters, allerdings keines Arbeitslosen, ist so gesehen ein Anfang, der Hoffnung macht. Selbst begütertere Arbeitslose bescheiden sich dagegen meist noch mit S-Klasse-Kutschen aus Sindelfingen, unpathetische Fahrzeuge von geringem ästhetischem Wert.
Wenn in letzter Zeit von jemandem, der mit seiner zu kurzen Latte im (für ihn) historischen Nebel stochert, versucht wird, den Dekadenzbegriff auf nichtvermögende, zum großen Teil unfreiwillige Arbeitslose auszudehnen, dann steckt dahinter nicht zuletzt so etwas wie der Sozialneid von Besserverdienenden, die heimlich von spätrömischen Verhältnissen träumen, Verhältnissen, wo der Herr noch der Herr war und der Sklave der Sklave und wo man sich köstlich über die Rangelei der Bediensteten amüsieren konnte, die entstand, wenn die Herren ein paar Brosamen vom Tisch wischten.
Dekadenz, ja selbst der Anschein einer solchen Haltung, ist ausschließlich etwas für die Oberschicht, das muß klar sein.