Zeit für die Zeit

Man muß Zeit haben, um sich die Zeit nehmen zu können, über die Zeit nachzudenken und darüber, was es heißt, Zeit zu haben oder sich Zeit zu nehmen. Meistens haben wir jedoch keine Zeit für die Zeit, weil wir uns mit der siebten Wiederholung der sechsten Folge von irgendwas beschäftigen: dem Zeitgeschmack entsprechend.

Gefährliches Leben

Wenn sie nicht, eine Gefahr für andere, auf der Lauer liegen, setzen sie ihre Sinne ein, um die Umgebung auf Gefahren abzutasten, und beim geringsten Anschein einer Bedrohung flüchten die Tiere der Wildnis, denn Tiere leben gefährlich, und sie meiden die Gefahr, wo sie nur können. Und auch domestizierte Tiere setzen sich lediglich dann Gefahren aus, wenn es um die Aufrechterhaltung ihres Status geht.

Anders der zivilisierte Mensch, dessen Umgebung weitaus friedlicher und bequemer ist als die der Tiere. Wenn er lange genug auf dem Sofa am warmen Ofen oder in der Nähe der Zentralheizung gesessen hat, beginnt der Mensch – meist die maskuline Variante – sich zu langweilen und wird unruhig. Er träumt vom gefährlichen Leben und empfindet sein Dasein als nichtig und ereignislos. Mancher beginnt mit den Nachbarn zu streiten, um ein wenig der Farbe, die er aus dem Fernsehn oder dem Kino kennt, ins eigene reale Leben zu bringen. Andere fahren zur Winterzeit in die Berge, um sich in der Eiger Nordwand oder beim Gletscherkraxeln zu beweisen. Allüberall haben Extremsportarten Konjunktur.

Darüber hinaus gibt es noch die Möglichkeit, mit exotischen Drogen zu experimentieren, an Komabesäufnissen teilzunehmen, illegale Autorennen zu veranstalten oder sich irgendeiner bewaffneten Gruppe anzuschließen. Auch diese Möglichkeiten werden zunehmend genutzt.

Und das alles nur wegen ein bißchen Adrenalin, dessen Ausschüttung man auch dann erleben könnte, wenn man gelernt hätte oder lernte, seine Sexualität auszuleben.

Style in the city

Eine Immobilienfirma wirbt in meinem Kiez, großflächig und mit sehr großen Buchstaben, stylisch um Kunden für „Appartments“ und „flexible Einzelhandelflächen“. Gemeint sind, so ist zu vermuten, Apartments oder vielleicht auch Appartements und Einzelhandelsflächen.

Auf der Website der Firma ist zu lesen: „Wir unterscheiden uns von den meisten unserer Mitbewerber durch den hohen Designstandard …“ Nun frage ich mich als potentieller Kunde, ob zum Stil nicht immer auch ein wenig Konvention gehören sollte, nämlich hier die Beachtung orthographischer und logischer Gesichtspunkte.

Was würden wir von einem Pharmazeuten halten, der uns in seiner Einzelhandel(s)fläche „Appotheke“ etwas verkaufen will, etwa Medizien? Das zur Orthographie. Und die Logik? Was soll ich mir unter einer flexiblen Einzelhandel(s)fläche vorstellen? Die Fläche in einem Gebäude bleibt, anders als beim Luftballon, gemäß dem äußeren Grundriß immer gleich, und wenn ich Wände einziehe, dann teile ich die Grundfläche in mehrere kleinere Flächen auf. Die Gesamtfläche selbst wird dabei nicht flexibel, sondern lediglich durch den Platzbedarf der Mauern verringert. Reiße ich die Mauern wieder ein, gewinne ich nur das zurück, was ich vorher verloren habe. Das nennt man: flexible Flächen-Gestaltung. Aber nicht „flexible Fläche“.

Karneval und Humor

Humor ist eine Grundhaltung, bei der es viele Formen gibt, von den eckigen bis zu den runden, manchmal ganz offen und manchmal versteckt. Karneval hat nur insofern etwas mit Humor zu tun, als hier für einige Tage im Jahr versucht wird zu verstecken, daß man keinen Humor hat. Weil ihm im heimischen Keller nur Tränen kommen, geht der Karnevalist zum kollektiven Lachen auf die Straße, während viele humorvolle Menschen nicht nur so tun, als gingen sie zum Lachen bevorzugt in den Keller. Sogar in Karnevalszeiten.

Mehrmals entfernen

Gerade las ich in der Online-Ausgabe einer Tageszeitung die Überschrift: „Mehrmals im Jahr entzündete Mandeln entfernen.“

Das hat mich überrascht, denn ich wußte bisher nicht, daß entfernte Mandeln wieder nachwachsen.

Brecht und die Geliebten

Es gibt ein schönes Gedicht von Brecht über Liebe und Furcht.

Version 1

Morgens und abends zu lesen

Der, den ich liebe
Hat mir gesagt
Daß er mich braucht.

Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte mich vor jedem Regentropfen
Daß er mich ihm erschlagen könnte.

(Aus: Liebesgedichte von Bertolt Brecht)

Quelle: https://www.suhrkamp.de/insel_taschenbuch_-_liebesgedichte_453.html

Version 2

Morgens und abends zu lesen

Der, den ich liebe
Hat mir gesagt
Daß er mich braucht.

Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem Regentropfen
Daß er mich erschlagen könnte.

(Aus: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, S. 586, Suhrkamp Verlag 1981)

Version 3

Morgens und abends zu lesen

Der, den ich liebe
Hat mir gesagt
Daß er mich braucht

Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem Regentropfen
Daß er mich ihm erschlagen könnte.

(Aus: Bertolt Brecht – Die Gedichte, S. 1135 f., Suhrkamp Verlag 2/2016)

Dazu gäbe es einiges zu sagen. Aber bevor ich das tun kann, müßte ich zuerst wissen, welche dieser drei verschiedenen Versionen aus ein und demselben Verlag die authentische ist. Ich habe dort angefragt, jedoch bisher keine Antwort bekommen.

Der Verlag hat sich inzwischen gemeldet und mir mitgeteilt, daß die dritte Version die richtige ist.

Übergewicht

Eines der besten Mittel gegen Übergewicht ist nicht etwa eine Diät oder Sporttreiben, wie mancher denken mag, sondern die Reduzierung der Zahnpflege auf ein Minimum. Recht bald wird sich eine ordentliche Zahnfleischentzündung einstellen und einem den Appetit verderben. Dann heißt es, die Entzündung nicht allzu schnell zu behandeln, sondern abzuwarten, bis das Idealgewicht erreicht ist. Die Einnahme von Schmerzmitteln ist erlaubt, ja sogar erwünscht, weil sie den leeren Magen belasten und damit den Appetit zusätzlich zügeln. Viel Erfolg.

Kommunikative Widrigkeiten

Neulich stellte jemand auf einem Blog (sich selbst?) die Frage, warum jedes Gelingen ein solches Ausmaß an Zeit und Bemühung beanspruche. Und im weiteren erklärte er, „unser Dasein“ sei „gewissermaßen ins Uneigentliche abgerutscht“, und um es „wahrhaft zu leben“ sei ein anderer „psychischer Zustand erforderlich“. Kurz gesagt: „Ekstatisches Glück“ sei nur „in der Freiheit“ erfahrbar, die möglicherweise illusionär sei. So der Kern seiner Aussage.

Ich gab dazu einen freundlichen, sachlichen, in keiner Weise auf die Person des Autors zielenden Kommentar ab, der seine Aussagen ein wenig relativierte, und wurde wenig später mit persönlichen Unterstellungen, psychogrammähnlichen Mutmaßungen bombardiert, Äußerungen, deren Heftigkeit mich nicht nur wenig überraschte. Zum Inhalt meines Kommentars sagte er so gut wie nichts: Meine Aussagen seien zweifelhaft, es gäbe „tausend Argumente“, die man dagegen vorbringen könne, aber die Zeit sei zu kostbar, um sich mit „pseudophilosophischen Fragen“ zu beschäftigen.

Nachdem ich mich dazu durchaus detailliert geäußert hatte, wurden alle Kommentare gelöscht.

Jetzt frage ich mich: Aus welchem Grund stellt jemand Texte ins Netz und ermöglicht durch die Kommentarfunktion einen Meinungsaustausch, wenn er an einem Meinungsaustausch nicht interessiert ist?

Das zur Vorrede. Nun zum Eigentlichen.

Das Mühevolle am Gelingen. – Soll man auf bekannte Sprichwörter verweisen wie: „Ohne Fleiß kein Preis“ oder „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, oder ist es besser, einfach zu erwähnen, daß sich bereits in der Bibel, Genesis 2, der Ausspruch findet: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen …“? Ja, das Leben der meisten Menschen ist bisweilen mühsam.

Das ins Uneigentliche abgerutschte Dasein. – Da stellt sich mir die Frage, was wir uns unter einem Eigentlichen vorzustellen haben, in dem unser Dasein sich zu einem früheren Zeitpunkt befunden haben könnte. Wie sah das aus, und zu welchem Zeitpunkt war unser Dasein noch im Eigentlichen? (Mir kam gerade der Gedanke, der Autor könnte mit „wir“ etwas anderes meinen als ich, also nicht einen Pluralis modestiae, sondern eine Art Pluralis majestatis oder einen Beziehungsplural benutzen – das sollte er dann aber erwähnen.)

Glück und Freiheit. – Ich will es kurz machen: Glück ist zum großen Teil Ansichtssache und Freiheit darüber hinaus ein Wort wie ein hohler Backenzahn, solange es nicht definiert ist, ein Leerraum, den jeder beliebig mit dem füllt, was er darin unterzubringen wünscht.

Paraphiles Turteln

Die Koboldmade
schürzt ihre blauen Lippen
und nicht nur diese

ihr wonnevolles Klagen
erwärmt den kühlen Keller

„… Und hatte Sich das Bäuchlein doch schon ganz schön=rund gegessn; die Lippm blau.) –:“ So : jetz nochn Schlückel Canarien=Sect,zum Runterschpüln.“;(und dann müssn Wir Wilma rufn)/(Sie strich,entsetzt, an Sich herunter : ? – :! – Sie wehklagte ):“H’chDän – : wie Du Mich fütersD ! Wenn’ch nu ganz dikk & unbehilflich werd‘?“;(& blies,demonstrierend, die Bäckl auf :!–)“

Arno Schmidt, „Zettels Traum“, 3. Buch: „Dän’s Cottage. (Ein Diorama)“, Zettel 449

Offensichtlich

Immer dann, wenn wir uns selbst nicht wirklich trauen, benutzen wir Modalwörter. So wird das Wort »offensichlich« gern verwendet, wenn wir unsrer Meinung nicht ganz sicher sind, aber sie dennoch, in manipulativer Absicht, anderen unterjubeln wollen, damit wir mit dieser Meinung nicht mehr allein sind und so vom Selbstzweifel wenn nicht verschont bleiben, so doch wenigstens etwas entlastet werden, denn was andere ähnlich sehen wie wir, so glauben wir, kann nicht ganz falsch sein. Ein riesiges Arbeitsfeld für Sprechakttheoretiker und Psycholinguisten.

Wenn das Modalwort »offensichtlich«, ein Hypothesenindikator, attributiv benutzt wird, um eine Tatsache, einen Gegenstand, einen Zustand oder eine Haltung zu charakterisieren, dann ist es entweder tautologisch (das Offensichtliche muß wegen seiner Offensichtlichkeit nicht noch als solches bezeichnet werden – das Gras ist offensichtlich grün, sagt niemand), oder es ist ein Versuch, den hypothetischen Charakter einer Aussage dadurch zu vertuschen, daß man sie mit einem appellativen Unterton versieht.

»Offensichtlich« heißt: Sieht doch jeder so, mußt du auch so sehen. Solltest du es anders sehen, stimmt etwas mit deiner Optik nicht.

Und dann setzt man sich, einigermaßen beruhigt, hin und putzt die verkratzten Linsen.

Pfusch am Bau

Wenn wir bei der Betrachtung der Natur mit ihren Schönheiten nicht übersehen, daß all die bunten Blumen und vielgestaltigen Krabbeltierchen in einem Nährboden von Grausamkeit und Willkür wachsen, können wir leicht auf den Gedanken kommen, bei der Planung dieses Abenteuerspielplatzes Welt sei mächtig geschlampt worden. Mit anderen Worten: Stümperei das Ganze.

Der Grundfehler dieser Betrachtungsweise ist der, daß wir es sind, die Kategorien wie „richtig“ und „falsch“, „sinnvoll“ und „sinnlos“ oder auch „gut“ und „schlecht“ erfunden haben und diese Kategorien nun auf etwas anwenden, das entstanden ist zu einem Zeitpunkt, da es solche Kategorien noch gar nicht gab. Ausgehend von unseren Bedürfnissen und selbstsüchtig, wie es unsere Art ist, versuchen wir eigene Intentionen in vorantike Blaupausen hineinzuprojizieren, und deshalb findet hier eine retrospektive Verformung der Schöpfungsgeschichte statt – nennen wir es ruhig mal so – , und wir verlagern unsere Vorstellungen in den „Geist“ eines wie auch immer gearteten Weltarchitekten oder Weltprinzips, der oder das möglicherweise etwas ganz andres geplant hatte als zweibeinige Tiere, die sich gegenseitig mit harten Gegenständen die Köpfe einschlagen. Wenn es überhaupt je, was ich bezweifle, so etwas wie eine „Planung“ gegeben hat.

Zufall und Notwendigkeit

Auch der Zufall hat eine innere Notwendigkeit, ist also immer nur ein relativer, doch in der Notwendigkeit ist kein Platz für den Zufall. Notwendigkeit ist absolut. Notwendigerweise gibt es Zufälle, aber es ist kein Zufall, daß es Notwendigkeit gibt.

Zufall ist ein Ereignis im Schnittpunkt von Kausalketten, ein Ereignis, dessen Notwendigkeit wir erkennen würden, wenn wir alle Kausalketten aus einer Art perspektivloser Vogelperspektive betrachten könnten.

Den Ursprung dieser Kausalketten ausmachen zu wollen überschreitet die Grenzen dessen, was unsere Apperzeption generiert, und damit die Möglichkeiten des menschlichen Denkens. Zufall und Notwendigkeit sind gebunden an die Welt der Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und in unserem Bewußtsein zu einem Bild gestalten.

Ein wie auch immer geartetes Absolutes zu erkennen, das bleibt der inneren Wahrnehmung überlassen, ist jedoch sprachlich-logisch nicht darstellbar.

Idiographische Luftsemantik

Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, daß wir verstehen, was ein Satz bedeutet, den wir hören oder lesen. Dabei blasen wir stillschweigend jedes Wort – wie einen Luftballon mit Gas aus der Flasche – mit konventionellen Bedeutungen auf und fügen zudem unsere individuellen Vorstellungen hinzu, und diese sind häufig nicht im entferntesten vergleichbar mit Edelgasen.

Wir schaffen es, einem Satz, ja einem einzigen Wort eine ganze Weltanschaung, nämlich die, die sich in unseren Köpfen geformt hat – oder die ihnen eingeblasen wurde –, unterzubringen. Als wäre nicht jedes Wort ebenso ein Mysterium wie der Mensch, der es zu verstehen glaubt – und mit ihm das, was mit diesem Wort bezeichnet wird.

Manchmal, wenn einer unseren Weg kreuzt, der eine kleine Nadel in der Tasche hat und mit ihr, vielleicht nur zum Scherz, ein wenig spielt, macht es plopp, plopp, und wir stehen inmitten von Luftballonfetzen. Wenig später, wenn wir es aufgegeben haben, die kläglichen Reste zusammenzuflicken, beginnt das Aufblasen  neuer Ballons.