Im Dasein eines jeden Menschen gibt es eine klare Linie, ob sie stimmig ist, darüber kann man nur schwer unterschiedlicher Auffassung sein, denn die Richtung ist klar: Jeder Mensch bewegt sich unweigerlich auf den individuellen Tod vor, die Auslöschung seines Ich-Bewußtseins. Das ist eine enorme Zumutung, aber für alle gleich. Einem jeden werden damit Belastungen auferlegt, die er durchzustehen hat, Verletzungen, Verstümmelungen allerorten. Für viele kaum zu tragen. Daß er sein Leben ohne erkennbaren Sinn abzuspulen hat, eine unbegreifliche Veranstaltung in einer Umgebung, die der Mensch nicht versteht, ist für ihn ebenso eine ungeheuerliche Kränkung wie das Bewußtsein seiner Nichtigkeit angesichts der nicht begreifbaren Dimensionen des Seienden und der Unerklärlichkeit des Seins. Von alldem abzulenken und die Verzweiflung fernzuhalten ist Aufgabe dessen, was wir Kultur oder auch Zivilisation nennen. Jenseits dieser Tröstungen gibt es nur den freien Fall ins Ungewisse.
B. Denken schreibt am 15.01.2010 um 10:55 Uhr:
Wer so radikal die kognitive Undurchdringlichkeit des „Mysterium mortis“ vertritt, der muß sich konsequenterweise auch solche Metaphern wie „freier Fall ins Ungewisse“ verkneifen. Wissen wir denn, ob es ein „Fall“ ist, zumal ein „freier“ Fall, der Bodenlosigkeit, Leere, Sinnlosigkeit suggeriert?
Daß „Kultur“ die Aufgabe der Ablenkung haben soll, ist in dieser hypothetischen Kürze nicht zu halten. Kürze wird hier zur Verkürzung.
Kultur mag da, wo sie dem Raffinement, der Genußsteigerung, dem Luxus dient, tatsächlich der Verdrängung Vorschub leisten; ob Kultur freilich sich in dieser Funktion erschöpft, ist doch sehr die Frage.
Was hindert uns, in der Kultur das gerade Gegenteil zu sehen: also die Vorbereitung, Einstimmung auf den Tod? Die „Ars moriendi“ war integraler Bestandteil der mittelalterlichen Kultur. Und nicht nur der. Wenn wir Sokrates/Platon Kultur zubilligen, dann gilt es, die noch im Phaidon angemahnte „Thanatou melete“, die „Kunst des Sterbens“, zur Kenntnis zu nehmen.
Lyriost schreibt am 15.01.2010 um 15:17 Uhr:
Lieber Doktor,
es freut mich sehr, daß Sie den Weg zu meinem Blog gefunden haben, und ich hoffe, Sie schauen bald wieder einmal vorbei.
Sie haben vollkommen recht mit ihrer Frage: „Was hindert uns, in der Kultur das gerade Gegenteil zu sehen: also die Vorbereitung, Einstimmung auf den Tod?“ Nichts hindert uns, wie ich bereits sagte, denn ich sprach ja nicht nur von Kultur als Ablenkung, also Spaßgesellschaft im weitesten Sinne, sondern auch vom Fernhalten der Verzweiflung. Die „Produktivkraft Tod“, wie Horst Domdey das nennt (Titel seines Buches über Heiner Müller), liegt nicht nur den ablenkenden Vermeidungsstrategien zugrunde, sondern ist auch die Kraft, die Religion, Philosophie und Kunst antreibt. Ja, mehr noch: „Der Tod wirft seinen Schatten auf alles und jeden. Kein Projekt kommt ohne ihn zustande.“ So Jean Ziegler in seinem Buch „Die Lebenden und der Tod“. Sie sehen, die Verkürzung ist nur eine scheinbare.
Daß Sokrates die Philosophie als „sterben lernen“ betrachtete, hat viele Nachfolger gefunden, ob sie nun Cicero heißen mögen, Montaigne („Philosophieren heißt sterben lernen“) oder Schopenhauer, für den der Tod der „inspirierende Genius, der Musaget der Philosophie“ ist. Bei Cicero ist bemerkenswert, daß er nach eigener Aussage erst durch den Tod seiner Tochter Tullia zum philosophischen Schriftsteller wurde.
Was sonst macht Menschen religiös, was sonst steckt hinter allen Religionen mit ihren Tröstungen als die Furcht vor dem Tod? Auch die „Ars moriendi“ sind der Versuch, den Tod als eine Übergangserscheinung auf dem Weg zum Göttlichen kleinzuhalten und ihm so seinen Stachel zu nehmen.
All das gehört zu unserer Kultur, die auf dem Bewußtsein unserer Sterblichkeit beruht und die versucht, den Fall – und es ist ein Fall, keine Metapher, wenn man von ein Meter achtzig über Staubniveau unter die Grasnarbe gerät – dahingehend abzumildern, daß sie Illusionen erzeugt, die suggerieren, alles sei halb so schlimm und möglicherweise ein Aufstieg zu „Höherem“.
Herzliche Grüße
Lyriost
B. Denken schreibt am 15.01.2010 um 18:09 Uhr:
Lieber Lyriost,
ich freue mich sehr, Gast bei Ihnen sein zu dürfen. Daß man sich gelegentlich auch bei MedEasy trifft, obwohl die Site im Augenblick ein Bild des Jammers bietet, dient letztlich nur der Kommunikation bzw. der Sache, um die es geht.
Bewußt habe ich den theologischen Terminus „Mysterium mortis“ verwendet, um Ihnen zusignalisierem, wie sehr Sie sich in der Radikalität Ihres Todesbegriffes de facto dem christlichem „Media in vita in morte sumus“ annähern. Jetzt, da Sie Ihre Gedanken weiter ausgeführt haben, mehr denn je.
Noch näher käme Ihr Kultur- und Todesbegriff dem christlichen Weltbild, wenn da nicht das Etikett „Illusion“ wäre, das Sie, wie mir scheint, dem Jenseitsgläubigen umhängen wie der Katze die Schelle.
Das geht mir zu schnell. Wenn sich die Illusion einem Wunsche, in unserem Fall dem Wunsch nach Unsterblichkeit, verdankt, so ist der Wunsch als solcher noch keineswegs Illusion. Wen es nach Brot hungert, wünscht sich etwas fraglos Reales, nur der Umstand, daß er sich mitten in der Sahara befindet, macht den Wunsch zur Illusion. Das Brot selber ist mitnichten als Illusion diskreditiert.
Was uns den Glauben an ein Weiterleben verleidet, ist der Augenschein, ist die „Ver-nichtung“ von Körper und Bewußtseins, vulgo Verwesung und Auflösung.
Ist die „Sahara“, die „Wüste des Lebens“ mit ihrem uentrinnbaren Schicksal des Verschmachtens, deshalb schon eine Widerlegung des „Hungers“ nach — verzeihen Sie den theologischen Ausdruck — „ewigem Brot“?
Herzliche Grüße
B. Denken
Lyriost schreibt am 16.01.2010 um 00:50 Uhr:
Lieber B. Denken,
ja, es ist schade, daß es bei MedEasy technische Probleme gibt, aber ich glaube der admin und seine Helfer werden das mit der Zeit in den Griff bekommen, und wir werden uns auch dort wieder begegnen.
Nun gut, sprechen wir von der Illusion oder den Illusionen. Sie haben das Bild der Sahara gewählt, um Ihr Anliegen zu illustrieren. Und in unserem Kontext kommt mir gleich die Assoziation des Verdurstenden, dem eine Fata Morgana das Bild einer saftigen Oase auf die Netzhaut zaubert, so real erscheinend wie nur irgendwas. Nun ist die Frage: Befinden wir uns in der Wüste oder nicht? Woher wollen wir das wissen?
Die einen sagen ja, die andern nein, aber jedes Zimmer, in dem wir die Apparate aufstellen, um zu versuchen, auf das Ganze zu blicken, ist von vornherein nicht der absolute Ort der Klarsicht, sondern nur hypothetischer Nullpunkt, abhängig von der Struktur unseres Gehirns, der Qualität unserer Vorstellungen, unserem Erkenntnisvermögen, dem Grad der Verstricktheit in Anschauungen, Theorien usw. und möbliert mit unseren subjektiven Wunschvorstellungen.
Auch der Fußboden dieses Beobachtungszimmers besteht aus Partikeln, die immer kleiner werden, wenn wir sie unter die immer größeren Mikroskope legen, und in den riesigen Teilchenbeschleunigern lösen sich immer kleinere Teilchen in immer kleinere Teilchen auf, ohne daß eine Basis gefunden wird. Kein Ort, auf dem sich sicher stehen ließe. Und auch in der anderen Richtung, im Makrokosmos, zerfließt alles ins Unendliche, und unser Beobachtungszimmer fließt mit.
Was aber, um zur Philosophie zurückzukehren, ist nun real? Ist es das ewig wandellose Sein des Parmenides oder das ewige Werden des Heraklit? Auf uns selbst als Individuen bezogen heißt das: Sind wir oder werden wir?
Dazu gibt es so viele unterschiedliche Vorstellungen, daß es schwierig ist, sich ein Bild zu machen, zumal wir, wenn wir der Heraklitschen These folgen, sehr schnell malen müssen, um nicht nur Bilder der Vergangenheit zu produzieren.
Folgen wir jedoch dem Antipoden Parmenides, dann stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, daß alles Werden illusionär ist und die Wirklichkeit aus wandellosem Sein besteht, das uns allen Wandel nur vorgaukelt: der berühmte Schleier der Maya, womit wir uns von Griechenland nach Asien begeben. Da finden wir etwa das Denken des Nagarjuna, der alles Seiende so lange logisch dekonstruiert, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt als das Instrument der Dekonstruktion, das sich zum Schluß, nach getaner Arbeit, selbst auflöst wie die modernen Fäden in der Chirurgie. Ganz ähnlich der Taoismus mit seiner Vorstellung von der Leere.
Und nun kommen wir und wollen uns retten (durchaus verständlich, wenn man weiß, wie selbstsüchtig unser kleines Ich ist), ins Jenseits rüberretten, um an der Seite Gottes zu sitzen und Lobpreisungen zu singen, mit Jungfrauen zu tändeln oder es in einem nach unserem Geschmack eingerichteten Paradies in Ewigkeit gemütlich zu machen.
Ob das, wie ich vermute, eine Illusion ist? Ich weiß es nicht. Ebensowenig kann aber jemand wissen, daß es keine ist. Wahrscheinlich ist alles ganz anders. Doch niemand weiß, wie es wirklich ist, und ich habe so eine Ahnung, daß niemand es jemals erfahren wird.
Herzliche Grüße
Lyriost
grenzgaenger schreibt am 16.01.2010 um 10:58 Uhr:
ohne hier inhaltlich beitragen zu können muss ich doch sagen, dass mir diese art geisteswissenschaftlichen inputs in einer zeit der überfrachtung meines gehirns mit komplexen medizinischen und naturwissenschaftlichen fakten und kontexten sehr gut tut. danke dafür an die herren.
werte grüße von der frau dr. grenzgängerin.
zartgewebt schreibt am 16.01.2010 um 11:42 Uhr:
„Der freie Fall ins Ungewisse“ ist TRÖSTUNG Lyriost, sowie auch dein „Doch niemand weiß, wie es wirklich ist , und ich habe so eine Ahnung, daß niemand es jemals erfahren wird.“, denn „ES“ zu wissen, „ALLES“ irgendwann, wäre der ENDPUNKT – (TOD).
„ES“ nie zu wissen … bin ich EWIG WERDEND.
zartgewebt … ohne Dr. 😉
Lyriost schreibt am 16.01.2010 um 13:47 Uhr:
Liebe zartgewebt,
auch in unseren Träumen ist das Fliegen im freien Fall nicht gerade selten, wird jedoch meistens als Alptraum empfunden, ganz im Gegensatz zu den horizontal schwebenden Varianten der Flugträume, die erotische Assoziationen wecken. Daß du den freien Fall ins Ungewisse als Tröstung empfindest, wundert mich ein wenig, wegen der fehlenden erotischen Konnotation, aber es zeigt mir, wieviel Urvertrauen du zu besitzen scheinst. Das ist nicht jedem gegeben.
Wenn du dich als ewig werdend betrachtest, was ich durchaus nachvollziehen kann, dann hast du dein Ich-Bewußtsein allerdings schon transzendiert zu einem Selbst-Bewußtsein und bist mit diesem als unberührter Betrachter des principiums individuationis bereits jenseits der Welt der Erscheinungen. Und damit ist die Vergänglichkeit für dich selbst kein Thema mehr. Da kann man nur hoffen, daß das Leuchten dieses Leuchtturms des Seins im Seienden nicht auch nur eine Illusion ist.
Liebe Grüße
Lyriost schreibt am 16.01.2010 um 14:41 Uhr:
Danke sehr auch für deinen Kommentar. Aber wer weiß, liebe Grenzgängerin, ob du nicht nach der zweiten Promotion noch ein wenig Muße findest, noch einen Dr. phil. ranzuhängen. 😉
Einen lieben Gruß.
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