Im Dasein eines jeden Menschen gibt es eine klare Linie, ob sie stimmig ist, darüber kann man nur schwer unterschiedlicher Auffassung sein, denn die Richtung ist klar: Jeder Mensch bewegt sich unweigerlich auf den individuellen Tod vor, die Auslöschung seines Ich-Bewußtseins. Das ist eine enorme Zumutung, aber für alle gleich. Einem jeden werden damit Belastungen auferlegt, die er durchzustehen hat, Verletzungen, Verstümmelungen allerorten. Für viele kaum zu tragen. Daß er sein Leben ohne erkennbaren Sinn abzuspulen hat, eine unbegreifliche Veranstaltung in einer Umgebung, die der Mensch nicht versteht, ist für ihn ebenso eine ungeheuerliche Kränkung wie das Bewußtsein seiner Nichtigkeit angesichts der nicht begreifbaren Dimensionen des Seienden und der Unerklärlichkeit des Seins. Von alldem abzulenken und die Verzweiflung fernzuhalten ist Aufgabe dessen, was wir Kultur oder auch Zivilisation nennen. Jenseits dieser Tröstungen gibt es nur den freien Fall ins Ungewisse.
Monat: Oktober 2020
Neue Vergangenheit
Immer dann, wenn ich die Dinge neu bedenke, kommen sie mir nach einer Weile merkwürdig vertraut vor, so als würde ich mich an etwas erinnern.
Tirade 141 – Lebensbericht
Windig mit Böen
und überwiegend bewölkt
einzelne Schauer
mit heiteren Abschnitten
für die Lebenszeit zu mild
Tirade 140 – Schneller Blick
Unterm Spiegelbild
verwirbeln fremde Augen
als sähe ich fern
aus der Nähe betrachtet
nur ein Maskenschnitzertrick
Zeitgemäß gendergerecht
Eine Sprecherin
spricht
und was?
die Sprache
dabei benutzt sie
die Buchstaben
die Laute
die Silben
die Wörter
die Zeichen
beachtet
die Regeln
die Orthographie
die Grammatik
die Syntax
die Semantik
Die Gesamtheit
die Struktur
schaut
sich an
die Sprachwissenschaft
oder auch
die Linguistik
Da kann man als Mann nur
Sternchen malen
oder besser gleich
schweigen
Selbstmitleid
Selbstmitleid ist der Gram des Zukurzgekommenen oder Beschnittenen über seinen Zustand. In seinen Tagträumen gottgleich allmächtig, erfährt er sich im wirklichen Leben als mißachtet, benachteiligt und ohnmächtig, gefangen im Spinnennetz einer von ihm als feindlich empfundenen Umwelt. Wie der Trauernde, beklagt er einen Verlust, jedoch nicht den realen Verlust eines geliebten Menschen, sondern den seiner träumerisch imaginierten Macht über die Welt der Objekte, zu denen er insgeheim auch die anderen Menschen zählt. Bleibt er mit seinem larmoyanten Lamento bei sich selbst, so wird es ihm bisweilen gelingen, sein Selbstmitleid als melancholische Gestimmtheit zu bejahen, es künstlerisch umzusetzen und daraus neues Selbstwertgefühl zu schöpfen.
Wenn demgegenüber die gedrückte Stimmung zur Schau gestellt wird, immer ostentativeren Charakter annimmt, das Selbstmitleid also appellativ zu funkeln beginnt, wird deutlich: Solcherart Selbstmitleid ist ein Versuch, diejenigen, von denen der Zukurzgekommene sich mißachtet fühlt, auf sich aufmerksam zu machen und sie zu sich heranzuziehen. Gelingt dies, was eher selten der Fall ist, schlägt das Benachteiligungsgefühl um in narzißtischen Triumph. Gelingt dies nicht, führt diese Form des Selbstmitleids häufig zu Zorn, Wut und Vergeltungsphantasien, mindestens jedoch zu einer ausgeprägten Verbitterung.
Selbstinszenierung
Wir empfinden die Selbstinszenierung anderer dann leicht als ein wenig übertrieben, wenn sie zu sehr von unserer eigenen Art der Selbststilisierung abweicht; wenn die inszenatorischen Bemühungen des anderen den unseren jedoch zu ähnlich sind, dann sind wir ernsthaft verstimmt, denn die Erkenntnis, daß der andere sich in exzentrischen Inszenierungen ergeht, läßt uns auch an unserer eigenen Authentizität zweifeln.
Meinungsaustausch
Das Wichtige beim Meinungsaustausch ist nicht so sehr die Meinung – Meinung ist doch im Idealfall nur ein flüchtiges Hirngas – als vielmehr der Austausch.
Lob und Kränkung
Unbegründetes Lob kränkt manchen Menschen weit mehr als unverdienter Tadel.
Vergebliche Umpolung
Ob es ihnen bewußt ist oder nicht: Die Existenz der Lebewesen besteht aus der Jagd nach dem Genuß und der Flucht vor dem Leid. Bei einigen wenigen, ausschließlich Menschen, scheint es umgekehrt zu sein. Als gehörte nicht beides, die Befriedigung der Bedürfnisse und deren Versagung, unweigerlich zusammen, so daß keinerlei Grund besteht, das Leid anziehen zu wollen wie ein Magnet die Eisenspäne. Ob wir genießen oder nicht: Kommt Zeit, kommt Leid. Niemals hat der Genuß das letzte Wort. Und Leid läßt sich nicht dadurch austricksen, daß wir versuchen, das Leiden zum Genuß umzudeklarieren. Früher oder später wird sich die Falschetikettierung im Nebel unseres Lebens von uns ablösen, wie der Wasserdampf das Etikett von der Weinflasche trennt.
Unter dem Mäntelchen der Verschwörungstheorie
Hat sich schon mal einer ernsthaft gefragt, welcher Sprachakrobat auf die glorreiche Idee gekommen ist, abstruses Verschwörungsgefasel, abseitige Hypothesen und manifeste Paranoia mit dem Wort »Theorie« zum Kompositum Verschwörungstheorie zu veredeln?
Sollten wir solche »Theorien« deshalb unter die Gesellschaftstheorien einordnen oder eher unter Psychophantasien? Wie auch immer, ich denke mit Wissenschaft oder ernsthafter Weltanschauung hat das alles nichts zu tun; derartige »Theorien« sind eher Ausdruck von metaphysischen Bedürfnissen wahrnehmungsmäßig überforderter Menschen, eine Art Katechismus für Freireligiöse.
Und natürlich sind diese geraunten Scheinzusammenhänge politische Waffen für Leute mit bösen Absichten. Zum Beispiel der, eine Verschwörung anzuzetteln. Wo keimen die eigenen Verschwörungswünsche besser als im Humus von sogenannten Verschwörungstheorien?
Auf der Treppe
Da sind zu laufen
soviel Stufen nach oben
Erfolg nach Erfolg
Da sind zu fallen
soviel Stufen nach unten
Ich sitze auf der Treppe
ganz unten doch ganz oben
Keine Erstarrung
Tief im Boden unter weißem Schweigen
ruht der Traum der warmen Nächte
morsche Pfeile die ins Leere zeigen
Sinnbild abgelöster Mächte
Zeit des ruhevollen Reifens
Werden muß noch etwas warten
Zeit des zielbefreiten Schweifens
im erstarrten Wünschegarten
Auch Gedanken müssen kreisen
während Seelenvögel rasten
um im kalten Klang die leisen
Zukunftstöne zu ertasten
Mahlstrom
Ob man das Mahlen und Malmen des Mahlstroms als Malheur empfindet, hängt sehr davon ab, wo sich der Beobachter befindet, innerhalb oder außerhalb.
Blondinenwitze
Seitdem nicht nur in unseren Breiten immer mehr Braunhaarige, auch braunhaarige Witzeerzähler, dazu übergegangen sind, sich die Haare blond zu färben oder doch zumindest blonde Strähnchen ins Haupthaar einzuschmuggeln, und zunehmend auch Blondinen gute Abiturzeugnisse vorweisen können, hat das Wohlwollen gegenüber Blondinenwitzen merklich abgenommen, und der herkömmliche, ehemals braungefleckte Blondinenwitzdichter mit Hauptschulabschluß hat beschlossen, jetzt da der sich selbst zumindest phänotypisch seinen Protagonistinnen angeglichen hat, seine spöttische Zuwendung anderen Gruppen der Gesellschaft zukommen zu lassen, denn sein uneingestandenes Minderwertigkeitsgefühl verlangt danach, sich der eigenen Überlegenheit dadurch zu vergewissern, daß er anderen die Dummheit bescheinigt, deren er selbst gerade mit Mühe und Not entkommen zu sein glaubt.
Aussehen
Nicht jeder ist so dumm, wie er aussieht, aber manche sehen so dumm aus, wie sie sind.
The light of the cold faces
FAZ mal wieder

3. Oktober
Roland Kaiser singt zum Tag der Deutschen Einheit. Armes Deutschland.