Erscheint nicht jeder ausgeprägte Stoizismus dem ein wenig übertrieben, der seiner noch nicht zu bedürfen glaubt, weil er, bequem und selbstverliebt, jederzeit die naheliegende Alternative des sentimentalen Selbstmitleids hat? Zwischen Selbstmitleid und Stoizismus klafft nur ein kleiner Spalt, über den zu schreiten aus der Vogelperspektive als Klacks erscheint. Ist der Übertritt gelungen, so mag im Stoizismus ein wenig Selbstmitleidsrest nachklingen, der sich Außenstehenden als Übertreibung der stoischen Haltung darstellt, so daß sie unangenehm berührt sind, wenn der Stoiker das, was sie für seinen Schritt halten, als beherzten oder gar dramatischen Sprung erscheinen läßt. Ist es ein Sprung? Ich selbst bin gegenwärtig weder zu Schritt noch Sprung geneigt oder getrieben, und so wage ich auch keine Mutmaßung über die Breite des Spalts zwischen heroischem Selbstmitleid und stoischem Heroismus.
BarJederVernunft schreibt am 03.01.2010 um 17:11 Uhr:
ich glaube, dass wir menschen stets dazu neigen, unsere sprünge dramatisch zu finden, wenn etwas in uns dabei nicht recht schritt halten konnte.
Arioso schreibt am 03.01.2010 um 20:38 Uhr:
http://arioso.myblog.de/arioso/art/6762665/Jean-Dominique-Bauby-Schmetterling-und-Taucherglocke-
Das entspricht natürlich einer dualistischen Zuspitzung auf das (m. E. wenig hilfreiche) Begriffspaar Stoizismus – Selbstmitleid. Deinen Beitrag ausführlich diskutieren zu wollen, wäre zweifellos eine langwierige Angelegenheit. Entscheidend für mich ist, dass es sich bei ‚Selbstmitleid‘ um einen stark negativ besetzten Begriff handelt. Mit weniger negativen Assoziationen behaftet wäre es, wenn man schriebe, ein Mensch nimmt sein Leid an und lebt mit ihm. Bei Bauby kam hinzu, dass, als man in seinem Umfeld von seinem Hirnschlag und dessen Folgen erfuhr, das Wort die Runde machte, er sei mittlerweile nur noch ‚Gemüse‘. Bauby erfuhr davon und wollte mit ‚Schmetterling und Taucherglocke‘ für die Öffentlichkeit das Gegenteil unter Beweis stellen. Vermutlich vor diesem Hintergrund bemühte er sich auch, als konsequenter Stoiker zu erscheinen, und vermied es gleichzeitig, seine primären Emotionen und Empfindungen stärker in den Text einfließen zu lassen.
Gruß,
Arioso
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Lyriost schreibt am 03.01.2010 um 23:20 Uhr:
Lieber Arioso,
danke für deinen Kommentar. Angeregt durch das, was dir bei deiner Bauby-Lektüre aufgefallen war, habe ich, unabhängig von diesem besonderen extremen Fall, versucht, das Allgemeine im Besonderen aufzuspüren. Selbstmitleid ist eine weitverbreitete Tatsache, und wer wollte es gerade Schwerkranken verübeln, wenn sie sich darin ergehen? Wenn das Unglück einen erwischt, dann hört man beinahe immer so etwas wie „Warum gerade ich?“, gehen wir doch klammheimlich davon aus, es werde schon nicht uns, sondern die anderen treffen.
Das Begriffspaar Stoizismus – Selbstmitleid ist keineswegs ein dualistisches, sondern hat neben der von mir geschilderten sanften Komplementarität durchaus weitere Berührungspunkte. So ist etwa sowohl bei Stoikern wie bei Selbstmitleidigen ein gewisser Fatalismus zu beobachten, der die unreflektierte stoische Haltung im allgemeinen ein wenig problematisch macht durch die ihr verdeckt innewohnende Tendenz zur Resignation. Nicht jeder Stoizismus ist von der heroischen Art. Wie dem auch sei, ich sehe das (durchaus verständliche) Selbstmitleid ganz unten auf der Leiter persönlicher Entwicklung und betrachte den pragmatischen Stoizismus als höhere Stufe, nicht als Gegensatz, sondern als Weiterentwicklung in Richtung „Athaumasie“, um einen Begriff des Stoikers Zeno zu benutzen.
Gruß
Ly
Lyriost schreibt am 04.01.2010 um 07:02 Uhr:
Postskriptum: Im nachhinein ist mir noch eingefallen, lieber Arioso, der perfekte Gegensatz zur stoischen Haltung Baubys ist die Fritz Zorns, dessen „Mars“ du auf deiner Website erwähnst. Das wäre einen Vergleich wert, wenn mich dabei nicht das ungute Gefühl des Voyeurismus überkäme. Ich habe das Buch damals, als es erschien, mit großer Anteilnahme gelesen, „Schmetterling und Taucherglocke“ dagegen kenne ich nur aus zweiter Hand.
Arioso schreibt am 04.01.2010 um 20:59 Uhr:
Lieber Lyriost,
nach wie vor bin ich nicht davon überzeugt, dass der Terminus ‚Selbstmitleid‘ im gegebenen Zusammenhang wirklich weiter führt. Dieser insgesamt doch eher pauschale Begriff dient faktisch vor allem als Mittel, unbequeme Gefühle und Gedanken einer anderen Person herabzuwürdigen, weil man sich selbst damit nicht belasten möchte. Wenn jemand die Sinnfrage stellt, kann man ihn schnell und bequem damit diffamieren, dass man ihm unterstellt, sein Fragen beruhe lediglich auf Selbstmitleid. Aber wie auch immer…
Dein Hinweis auf Fritz Zorn ist interessant. Ich habe sein Buch auf meiner Website ausführlich besprochen:
http://arioso.myblog.de/arioso/archiveofmonth/2009/05/00
Es hat mich beeindruckt, doch habe ich auch dessen Grenzen gesehen. Stark vereinfacht gesagt, gehorcht Zorns Reflektieren zu sehr den Impulsen des Wunschdenkens. Das m.E. unverzichtbare Element der Selbstkritik fehlt fast vollständig.
Insgesamt stärker beeindruckt als Bauby und als Zorn hat mich der Schweizer Peter Noll (1926-1982), der im Dezember 1981 erfahren hatte, dass er an Blasenkrebs erkrankt war und der in der ihm verbleibenden Zeit vom 28.12.1981 bis zum 30.09.1982 ein Tagebuch führte, in dem er sein auslaufendes Leben und vor allem sein allmähliches Sterben reflektierte. Diese Aufzeichnungen sind später unter dem Titel ‚Diktate über Sterben und Tod‘ publiziert worden. Meine ausführliche Besprechung hierzu befand sich in meinem alten Weblog, den ich vor neun Monaten aus dem Netz genommen habe.
Gruß,
Arioso
Lyriost schreibt am 05.01.2010 um 07:57 Uhr:
Lieber Arioso,
auf das Selbstmitleid, durch das jemand, der es dauerhaft pflegt, den vermeintlichen Opferstatus, den er so sehr beklagt, tatsächlich erst erlangt, werde ich gelegentlich zurückkommen. Und was die betrifft, die ein die Sinnfrage stellendes tragisches Seinsbewußtsein mit Larmoyanz verwechseln (wollen) und Tränen mit Weinerlichkeit, auf die sollte man verzichten und sich von ihnen abwenden. Auch wenn wir uns herabgewürdigt fühlen, begeben wir uns wieder unnötig in den Opferstatus. Man muß sich das nicht antun.
Gruß
Lyriost
PS: Robert Gernhardt, nicht lange bevor er an Darmkrebs starb:
Nu liegste wieder flach
Nu liegste wieder wach
Nu fragste wieder: Warum ich?
Und hörst als Antwort: Wieso nich?
(aus: „Später Spagat“)
Arioso schreibt am 05.01.2010 um 21:53 Uhr:
Um diesen Wortwechsel allmählich abzuschließen: Der von dir verwendete Begriff ‚Selbstmitleid‘ stammt offenbar aus dem Bereich Selbsthilfe. Die Menschen sollten sich hiernach nicht in negative Empfindungen hineinsteigern, sondern sich nach negativen Erfahrungen allmählich auch wieder auf die positiven Seiten des Lebens einlassen. Leid geht nun einmal vorüber. Offenbar bastelst du hieraus eine Art Lebensphilosophie, die Allgemeingültigkeit beansprucht, einen verbindlichen Wegweiser zum Glück für jedermann. Für meine Begriffe ist das Fundament ‚Ablehnung von Selbstmirleid‘ aber viel zu trivial für ein solches Unterfangen. Wenn ich an Krebs erkranke oder einen mir nahestehenden Menschen verliere, dann nehme ich mir das Recht heraus, ein solches Ereignis in der Art und Weise zu verarbeiten, die mir persönlich angemessen ist. Der eine kommt vielleicht schnell darüber hinweg, der andere weniger schnell. Das ist eine sehr persönliche Angelegenheit, die stark mit seiner psychischen Verfassung der betreffenden Person verbunden ist.
Was m.E. jedoch sehr viel interessanter ist: Ist nicht jede Trauer letztlich eine Form des Selbstmitleids? Stell dir den Fall vor, deine Frau und deine Tochter kommen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Von einer Sekunde auf die andere sind sie ausgelöscht. Letztlich trauerst du als Zurückbleibender um den Verlust DEINER Familie. Du trauerst, weil DU das, was DU DIR aufgebaut hattest, mit einem Schlag unwiderbringlich verloren hast. Du trauerst um einen Teil DEINER SELBST, und diese Trauer hilft niemandem mehr. Wenn man dem stoischen Gedanken folgt, dass man mit dem, was nicht mehr zu ändern ist, nicht hadern sollte, dann müsstest du dein Leid schlagartig beenden. Das funktioniert aber nicht, weil die Trauer (wie auch die Freude) im tiefsten Innern immer selbstbezogen ist. So ist der Mensch nun einmal konstituiert, und alle Versuche, zwischen einer akzeptablen und einer inakzeptablen Trauer (‚Selbstmitleid‘) differenzieren zu wollen, sind letztlich unwissenschaftlich und zum Scheitern verurteilt. Solche Versuche mögen im Rahmen bestimmter Formen der Therapie auf manche Menschen eine hilfreiche Wirkung haben – mich persönlich interessiert es mehr, die Struktur der Psyche zu durchschauen. Natürlich hätte man z.B. Fritz Zorns vorwerfen können, dass sein Denken auf ausgeprägtem Selbstmitleid beruht. Viel interessanter ist jedoch die Frage, was in seiner Psyche und der Psyche seiner Mitmenschen vorgegangen ist. Warum z.B. wurde er depressiv? Warum z.B. hat er nie eine Frau zum Vögeln gefunden, obwohl er beliebt war und in seinem Studium viele Kontakte und einen beträchtlichen Freundeskreis hatte?
Lyriost schreibt am 06.01.2010 um 00:56 Uhr:
Nein, lieber Arioso,
weder der Begriff noch der Inhalt dessen, was ich unter Selbstmitleid verstehe, stammen aus dem „Bereich der Selbsthilfe“. Auch „bastele“ ich nicht an einer Art Lebensphilosophie, wie du ein wenig pejorativ formulierst. Ich denke einfach nur nach über die Verhaltensweisen der Menschen. Und bei diesem Nachdenken, in Verbindung mit meinen Erfahrungen, kommt heraus, daß ich feststelle: Larmoyante Egozentrik ist nicht nur unschön anzuschauen, sondern führt darüber hinaus zu nichts als Stillstand, Selbstbeweihräucherung und Entwicklungshemmung.
Wer sich selbst bemitleidet, macht andre für seine Kümmernisse verantwortlich. Er sieht von seiner eigenen Verantwortung für seine Situation ab und projiziert alle Verantwortlichkeiten nach außen. Mit dem Stoiker Epiktet gesprochen, ist nicht das Übel verantwortlich für das Leiden, sondern die verzerrte, wenig durchdachte Meinung des einzelnen über das Übel, das ihm widerfährt. Sokrates war nicht larmoyant, und er sah nicht mal den gefüllten Schierlingsbecher als so großes Übel an, daß er geneigt gewesen wäre, ihm auszuweichen, was durchaus in seiner Macht gestanden hätte.
Was der Selbstmitleidige mit dem Gefühl der Trauer macht, grenzt an Instrumentalisierung. Er benutzt sein Gefühl zur Aufwertung der eigenen Person nach außen. Und das tut er in der Regel, weil er sich von anderen nicht ausreichend beachtet fühlt und in seiner Wichtigkeit überschätzt.
„Anders als die Stimmung der Traurigkeit ist Selbstmitleid eine Haltung, für die der Betreffende selbst verantwortlich ist. Trauer ist ein Widerfahrnis, Selbstmitleid hingegen eine egozentrische Untugend. Der Wehleidige denkt immer nur an sich. Rücksicht auf andere erspart er sich, aber die eigenen Gefühle sind ihm heilig. Laut bettelt er um das Mitleid der anderen. Sie sollen sich um ihn kümmern, für ihn sorgen, ihn trösten, sein Leid teilen.“ So Wolfgang Sofsky.
Was ganz anderes ist eine tragische Grundhaltung, die den einzelnen dazu bringt, sich die Hinfälligkeit, Geworfenheit, Erbärmlichkeit, die ganze Tragik des Lebens vor Augen zu halten, was zu einem Mitleid mit jeder Kreatur führt, fernab aller Egozentrik und Wichtigtuerei. Das aber beinhaltet natürlich auch den ebensolchen Blick auf das eigene Leben und damit selbstverständlich genauso Mitleid mit sich selbst wie mit den anderen Geschöpfen. Denn man selbst ist Teil dieser Kreatürlichkeit. Doch nicht die Krone mit den Dornen.
Gruß
Lyriost
Arioso schreibt am 07.01.2010 um 20:56 Uhr:
„Was ganz anderes ist eine tragische Grundhaltung, die den einzelnen dazu bringt, sich die Hinfälligkeit, Geworfenheit, Erbärmlichkeit, die ganze Tragik des Lebens vor Augen zu halten, was zu einem Mitleid mit jeder Kreatur führt, fernab aller Egozentrik und Wichtigtuerei. Das aber beinhaltet natürlich auch den ebensolchen Blick auf das eigene Leben und damit selbstverständlich genauso Mitleid mit sich selbst wie mit den anderen Geschöpfen. Denn man selbst ist Teil dieser Kreatürlichkeit. Doch nicht die Krone mit den Dornen.“
Dieser Absatz ist wirklich gut und bemerkenswert, weil er endlich Flexibilität erkennen lässt. Was du kritisierst, ist also die Egozentrik, die im ‚Selbstmitleid‘ eine Verkörperung findet. Darin kann ich dir bedingungslos folgen. Und auch darin, dass du jetzt Mitgefühl zulässt.
Gruß,
Arioso
Lyriost schreibt am 08.01.2010 um 09:21 Uhr:
Lieber Arioso,
ganz erstaunlich finde ich deine Auffassung, es gäbe bei mir einen Entwicklungsprozeß in Hinsicht auf Mitgefühl („endlich Flexibilität“, „daß du jetzt Mitgefühl zuläßt“). Diesen Prozeß gibt es nicht. Als ich in den frühen siebziger Jahren intensiv Schopenhauer las, kam ich unter anderem zu dem Schluß, daß dessen Mitleidsethik das Beste war, was ich jemals zum Thema gehört hatte, und daß dies vollkommen mit meinen Empfindungen übereinstimmte. Daran hat sich trotz vieler Veränderungen in meinem Denken, nicht jedoch in meinen Empfindungen, bis heute nichts geändert.
Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich treffe immer wieder auf Leute, die mich fragen, wie es mir gehe, und wenn ich dann sage: Ganz gut. Hab bloß seit gestern ein bißchen Zahnschmerzen, dann fühlen sie sich aufgefordert zu sagen: Aha, ich nicht, aber … Und dann erfahre ich von allen Zahnärzten, bei denen sie gelitten haben, daß ihr Weisheitszahn ausgegraben werden mußte … und und und. Zum Schluß sehen sie mich groß an, und ich spüre deutlich, daß sie erwarten, ich möge sie in den Arm nehmen und trösten.
Diese zunehmende Selbstbezogenheit ist es, die mich stört und gegen die ich mich wende. Und gegen Menschen, die beim Konzert mit Schumann in d-Moll schluchzen und in Tränen zerfließen, aber anschließend an dem Obdachlosen mit der Mundharmonika im U-Bahn-Eingang achtlos oder gar angewidert vorbeigehen, ohne zu schauen, ob sie nicht vielleicht noch einen Euro vom Wechselgeld der Konzertkasse übrighaben.
Gruß
Lyriost
Arioso schreibt am 09.01.2010 um 18:13 Uhr:
Lieber Lyriost,
eine sehr komplexe Thematik, die wir hier nicht abschließend besprechen können. Deine anfänglichen Ausführungen zu ‚Selbstmitleid‘ und ‚Stoizismus‘ – insbesondere die Formulierung, die Alternative zum Stoizismus stelle sentimentales Selbstmitleid dar – erweckten bei mir jedenfalls den Eindruck, du wolltest zur Frage des menschlichen Leids in Anlehnung an die stoische Philosophie stark rationalistische Auffassungen vertreten. Nehmen wir das Beispiel des Sterbens bzw. das des Todes. Natürlich ist, wie die Stoiker betonen, die Notwendigkeit des Sterbens mit dem Augenblick der Geburt gegeben, und wer den Tod ablehnt, lehnt auch das Leben ab. Da gibt es z.B. Senecas Trostschrift an Marcia, deren Sohnes jung verstorben war. Seneca bringt darin seine Verwunderung über das „vernunftwidrige“ Trauerverhalten Marcias zum Ausdruck. Er unterstellt Marcia sogar eine „verdorbene Freude am Schmerz“, an dem sie lediglich aus Gewohnheit und als Ersatz für den verlorenen Sohn festhalte. Bemühungen, ein existentielles, psychisches Geschehen mit rationalen Argumenten in den Griff zu bekommen, sind mir immer suspekt. Generell wird m. E. das simple Argument, jemand, der z. B. einen ihm nahestehenden Menschen verloren hat und um ihn trauert, habe „bloß Selbstmitleid“ nur allzu leicht verwendet. Es handelt sich auch offensichtlich um ein Totschlagargument, denn was sollte man darauf erwidern? Demgegenüber schienen mir deine späteren Ausführungen eine beachtliche Flexibilität erkennen zu lassen. Allerdings sehe ich noch das Problem, dass du Egozentrik (bzw. das aus ihr resultierende Selbstmitleid) offenbar aus moralischen Erwägungen ablehnst oder gewissermaßen zurückdrängen willst (vielleicht um die Menschen glücklicher zu machen oder moralisch zu bessern). Ich sehe die Menschen hingegen als frei und selbstbestimmt an: Wenn jemand egozentrisch sein und sich z. B. in Selbstmitleid verlieren möchte, dann ist das seine Angelegenheit, es sei denn, er beeinträchtigt dadurch das Leben seiner Mitmenschen (zur Vermeidung des letzteren gibt es jedoch ja Recht und Gesetz). Wenn jemand aus dem Selbstmitleid herauskommen möchte und es ihm aus eigener Kraft nicht gelingt, dann benötigt er hingegen vermutlich einen Therapeuten.
Gruß,
Arioso
Lyriost schreibt am 11.01.2010 um 11:46 Uhr:
Lieber Arioso,
natürlich können wir nichts endgültig klären, Sinn eines solchen Gesprächs ist Selbstvergewisserung und die vergleichende Prüfung von Positionen, nicht die Produktion allgemeingültiger Anschauungen. Ganz bestimmt wünsche ich niemanden „moralisch zu bessern“, und auch für sein Glück ist ein jeder selbst verantwortlich. Ich lehne Egozentrik und Selbstmitleid nicht aus moralischen Erwägungen ab, sondern eher aus ästhetischen. Aus Egozentrik generiertes Selbstmitleid ist nicht gerade der Höhepunkt menschlicher Schönheit.
Noch einmal, ich rede nicht von Trauer über den Verlust eines lieben Menschen, und ich verstehe nicht, weshalb du diese so konsequent mit Selbstmitleid verwechselst. Trauer ist etwas gänzlich anderes, und ich kenne niemanden, der diese Trauer leichtfertig abtut und „allzu leicht“, wie du schreibst, zum bloßen Selbstmitleid herunterspielt. So etwas ist in unserer Kultur nicht üblich.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen zu Stoizismus und Selbstmitleid war deine Bemerkung über Baubys „vielleicht ein wenig übertriebenen Stoizismus“ angesichts seiner Erkrankung, die zum weitgehenden Verlust seiner Handlungsspielräume geführt hatte. Ich stellte mir die Frage, ob dies nicht tatsächlich eine gute Alternative ist im Vergleich zu dem ganz normalen, noch nicht einmal übertriebenen Selbstmitleid, in dem so viele
versinken, die plötzlich durch Krankheit aus ihrem gewohnten Leben gerissen werden. Wird dieses Selbstmitleid dauerhaft, was zum Beispiel gerade nach Schlaganfällen häufig passiert, dann verbaut sich der Rekonvaleszent jede Möglichkeit, Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Genau das aber hat Bauby nicht getan, er hat vielmehr aus dem Nichts, in das er gefallen war, noch herausgequetscht, was herauszuquetschen war. Und das finde ich uneingeschränkt bewundernswert. Daran ist absolut nichts Übertriebenes.
Daß dir die rationale Betrachtung psychischen Geschehens suspekt ist, ist deine Sache, aber ich sage dir aus persönlicher Erfahrung, wenn es für mich eine Möglichkeit gab, mich nach längerem Herumeiern aus manchen im nachhinein betrachtet lächerlichen emotionalen Verstrickungen zu befreien, dann hatte das stets mit Rationalität zu tun.
Gruß
Lyriost
Arioso schreibt am 11.01.2010 um 20:27 Uhr:
„Ausgangspunkt dieser Überlegungen zu Stoizismus und Selbstmitleid war deine Bemerkung über Baubys „vielleicht ein wenig übertriebenen Stoizismus“ angesichts seiner Erkrankung, die zum weitgehenden Verlust seiner Handlungsspielräume geführt hatte. Ich stellte mir die Frage, ob dies nicht tatsächlich eine gute Alternative ist im Vergleich zu dem ganz normalen, noch nicht einmal übertriebenen Selbstmitleid, in dem so viele versinken, die plötzlich durch Krankheit aus ihrem gewohnten Leben gerissen werden. Wird dieses Selbstmitleid dauerhaft, was zum Beispiel gerade nach Schlaganfällen häufig passiert, dann verbaut sich der Rekonvaleszent jede Möglichkeit, Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Genau das aber hat Bauby nicht getan, er hat vielmehr aus dem Nichts, in das er gefallen war, noch herausgequetscht, was herauszuquetschen war. Und das finde ich uneingeschränkt bewundernswert. Daran ist absolut nichts Übertriebenes.“
Leider falsch zitiert und zudem aus dem Zusammenhang gerissen. In meiner Besprechung zu ‚Schmetterling und Taucherglocke‘ schrieb ich: „Sein Schicksal nimmt Bauby mit Haltung und bemerkenswertem, vielleicht ein wenig übertriebenem Stoizismus hin. Über weite Strecken versteht er es, überaus geistreich zu plaudern und die Kraft der Erinnerungen und den Flug der Träume und Vorstellungen zu beschwören. Nur in manchen Momenten brechen angesichts der Ausweglosigkeit seiner Lage Resignation und Verzweiflung für Momente an die Oberfläche.“ – Es ging also nicht um die Nutzung von Handlungsspielräumen und insbesondere nicht darum, dass Bauby sein Buch trotz widriger Voraussetzungen verfasst hat. Ausgehend vom Inhalt seines Buches ging es um die Frage, wie Bauby sein Schicksal reflektiert, und mein Eindruck war, dass er einen bemerkenswerten, vielleicht ein wenig übertriebenen Stoizismus an den Tag legt. Stoizismus ist hier als eine Haltung gemeint, die Affekte bewusst beherrscht und Leiden gefasst trägt. Zur Erläuterung: Ich hätte mir zum Beispiel vorstellen können, dass Bauby wie etwa Fritz Zorn oder Peter Noll den eigenen gesundheitlichen Zusammenbruch oder seine persönliche Situation einer stärker analytischen oder philosophischen Betrachtung unterzieht. Meine Formulierung war aber mit Absicht vorsichtig und ambivalent gewählt.
Leider habe ich den Eindruck gewonnen, dass du nicht auf meine Aussagen eingehst und dich überhaupt bewusst in eine eindimensionale Polemik zurückziehst. Du möchtest offenkundig um jeden Preis Recht behalten und opferst dafür deine Flexibilität und dein Reflektionsvermögen. Das ist ein weit verbreitetes Muster, und unter diesen Bedingungen sehe ich ein Gespräch nicht als sinnvoll an. Für mich ist dieser Austausch damit beendet, und ich werde deine Antwort auch nicht mehr lesen.
Lyriost schreibt am 11.01.2010 um 21:21 Uhr:
Lieber Arioso,
ich habe nicht falsch zitiert, ich habe nur punktgenau den Ausgang meiner Überlegungen dargestellt, und das war nicht einmal als Kritik an dir gedacht, sondern für mich war deine Äußerung lediglich ein Denkanstoß. Was den Zusammenhang betrifft, so habe ich oben unter meinem Beitrag deinen Artikel verlinkt, so daß jeder sich jederzeit leicht den Zusammenhang erschließen kann. Deine Empfindlichkeiten kann ich nicht nachvollziehen. Und was die „eindimensionale Polemik“ betrifft, die kann ich bei mir nicht feststellen. Daß ich deine Auffassungen nicht in jeder Hinsicht kommentarlos übernehmen möchte, wirst du mir hoffentlich nachsehen, denn ich habe naturgemäß ein eigenes Denken. Wenn du bereits die leiseste Abweichung von deiner Auffassung als polemische Kritik und „recht behalten“ wollen betrachtest, dann bist du nicht vertraut mit dialogischem Miteinander. Das ist außerhalb von Monologen ein klarer Nachteil beim Gespräch.
Gruß
Lyriost
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