Stoischer Heroismus

Erscheint nicht jeder ausgeprägte Stoizismus dem ein wenig übertrieben, der seiner noch nicht zu bedürfen glaubt, weil er, bequem und selbstverliebt, jederzeit die naheliegende Alternative des sentimentalen Selbstmitleids hat? Zwischen Selbstmitleid und Stoizismus klafft nur ein kleiner Spalt, über den zu schreiten aus der Vogelperspektive als Klacks erscheint. Ist der Übertritt gelungen, so mag im Stoizismus ein wenig Selbstmitleidsrest nachklingen, der sich Außenstehenden als Übertreibung der stoischen Haltung darstellt, so daß sie unangenehm berührt sind, wenn der Stoiker das, was sie für seinen Schritt halten, als beherzten oder gar dramatischen Sprung erscheinen läßt. Ist es ein Sprung? Ich selbst bin gegenwärtig weder zu Schritt noch Sprung geneigt oder getrieben, und so wage ich auch keine Mutmaßung über die Breite des Spalts zwischen heroischem Selbstmitleid und stoischem Heroismus.

Laster

Der Jahresbeginn ist die Hochzeit der (zumindest vorübergehenden) Lasterbekämpfung. All die guten Vorsätze wollen in die Tat umgesetzt werden. Weshalb aber bekämpft jemand seine Laster? Nun, die Antwort ist einfach: damit er mehr Zeit und moralische Rechtfertigung gewinnt, sich über die Laster der anderen zu echauffieren. Wenn es auch nur selten gelingt, den eignen guten Vorsätzen gerecht zu werden, die Aufregung über die moralische Fehlbarkeit der anderen wird durch diese Mißerfolge eher zunehmen und sich im Laufe der Jahre so verdichten, daß ein neues Laster entsteht: das Laster der Intoleranz. Ja, der Vorrat an Duldsamkeit ist begrenzt, und die meisten Menschen benötigen zunehmend so viel Indulgenz für sich selbst, daß für andere immer weniger übrigbleibt. Die Positition des gütigen Beichtigers ist so verwaist, wie das Wort »Beichtiger« veraltet ist.