Wenn der Mensch zuviel Zeit hat, versucht er schreiend ihren Nerv zu treffen, um sie zu vertreiben.
Monat: Juli 2020
Der Nerv der Zeit
Der Zeitgeist hat, wie auch die Zeit selbst und alle anderen Geister, keine Nerven, aber er nervt, weil er denen, die welche haben, auf die Nerven geht. Und wenn von jemandem behauptet wird, er treffe den Nerv der Zeit, dann hat er in Wirklichkeit den Zeitgeist eingefangen und erschreckt damit zu mitternächtlicher Stunde harmlose Schlummerer, die meinen, es gebe ebensowenig Neues unter der Sonne wie unter der Bettdecke.
Seltsame Vögel
Der pfäuische Mensch kann nur ein wenig stolzieren und das Rad schlagen. Beim Versuch, beides gleichzeitig zu tun, fällt er meistens hin. Der Pfau dagegen, dem der Mensch nachzueifern versucht, kann sogar flattrig fliegen. Und sieht dabei immer noch eleganter aus als der radschlagende Stolpervogel am Boden.
Turmbau zu Dubai
In Dubai steht der höchste Wolkenkratzer der Welt. Jetzt fehlen nur noch die Wolken.
Die Karikatur der Nacktschnecken
Schon erstaunlich. Als das elektronische Ganzkörperpetting mit an der Realität orientierten bildgebenden Verfahren zum ersten Mal eingeführt werden sollte, gab es einen Aufschrei der Empörung, und beinahe alle, außer denen mit Idealmaßen, befürchteten, auf diese Weise nackt zur Schnecke gemacht zu werden. Nun, da die modifizierten Scanner die Menschen in geschlechtslose Strichmännchen umzuformulieren versprechen, regt sich nicht mehr viel. Durch die virtuelle Reduktion zur asexuellen Karikatur scheint sich niemand so recht verletzt zu fühlen.
Stoischer Heroismus
Erscheint nicht jeder ausgeprägte Stoizismus dem ein wenig übertrieben, der seiner noch nicht zu bedürfen glaubt, weil er, bequem und selbstverliebt, jederzeit die naheliegende Alternative des sentimentalen Selbstmitleids hat? Zwischen Selbstmitleid und Stoizismus klafft nur ein kleiner Spalt, über den zu schreiten aus der Vogelperspektive als Klacks erscheint. Ist der Übertritt gelungen, so mag im Stoizismus ein wenig Selbstmitleidsrest nachklingen, der sich Außenstehenden als Übertreibung der stoischen Haltung darstellt, so daß sie unangenehm berührt sind, wenn der Stoiker das, was sie für seinen Schritt halten, als beherzten oder gar dramatischen Sprung erscheinen läßt. Ist es ein Sprung? Ich selbst bin gegenwärtig weder zu Schritt noch Sprung geneigt oder getrieben, und so wage ich auch keine Mutmaßung über die Breite des Spalts zwischen heroischem Selbstmitleid und stoischem Heroismus.
Laster
Der Jahresbeginn ist die Hochzeit der (zumindest vorübergehenden) Lasterbekämpfung. All die guten Vorsätze wollen in die Tat umgesetzt werden. Weshalb aber bekämpft jemand seine Laster? Nun, die Antwort ist einfach: damit er mehr Zeit und moralische Rechtfertigung gewinnt, sich über die Laster der anderen zu echauffieren. Wenn es auch nur selten gelingt, den eignen guten Vorsätzen gerecht zu werden, die Aufregung über die moralische Fehlbarkeit der anderen wird durch diese Mißerfolge eher zunehmen und sich im Laufe der Jahre so verdichten, daß ein neues Laster entsteht: das Laster der Intoleranz. Ja, der Vorrat an Duldsamkeit ist begrenzt, und die meisten Menschen benötigen zunehmend so viel Indulgenz für sich selbst, daß für andere immer weniger übrigbleibt. Die Positition des gütigen Beichtigers ist so verwaist, wie das Wort »Beichtiger« veraltet ist.
Lichtenberg-Variation
Wenn ein Wort auf ein Sinnesorgan trifft, und es kommt nichts Brauchbares bei dieser Zusammenkunft heraus, dann liegt das in den seltensten Fällen am Wort. Bisweilen helfen Ohrenstäbchen oder Augentropfen, doch nicht so häufig, wie man sich das wünschen mag, denn Schmalz und Schmutz sitzen leider oft so tief wie der Aberglaube. Nahezu unerreichbar.
Entgegenkommen
Allzu großes Entgegenkommen wird von manchen Menschen entweder als Selbstverständlichkeit betrachtet oder gar als Angriff mißverstanden. Besonders von denen, die das eigene Zurückweichen als Entgegenkommen ansehen.
Unzulänglichkeiten
Beim Kampf gegen Unzulänglichkeiten lohnt sich besonders das Vorgehen gegen die eigenen Schwächen. Leider geht das nicht selten mit unzulänglichen Mitteln vonstatten oder wird gar auf später verschoben. Es ist leichter, die Schwimmtechnik anderer zu kritisieren und sich über deren Tolpatschigkeit zu mokieren, als selbst versuchsweise den Schwimmring beiseite zu legen.
Besonders genau bei der Beurteilung von Schwimmern nehmen es nicht etwa Schwimmlehrer, sondern jene, die selbst gerade mit Mühe und Not das Schwimmen gelernt haben. Die schärfsten Kritiker der Schwimmer aber sind seit eh und je die Nichtschwimmer.
Sprachkrise
In der Sprache gibt es keine Krise. Nur bei den Sprechern und vor allem den Schreibern, die von der Sprache der andern beherrscht werden, weil sie die eigene nicht beherrschen.
Lange Sicht
Auf lange Sicht ist der Zeitvertreib, die kurzweilige Vertreibung der Langeweile, eine ziemlich langweilige Angelegenheit.
Immer Glück
Ein ungewöhnlich wohlhabender Mann wurde beerdigt. Kommentar am Rande: Er hatte immer mehr Geld als die anderen, ein schickeres Auto und ein weitläufiges Grundstück mit einem riesigen Haus. Und jetzt hat er auch noch den größten Grabstein. Manche haben halt immer Glück.
Tirade 139 – Ruhiger Tag
Die Pfützen krachen
in allen Bäumen rascheln
graue Mumien
und Wolken streuen heimlich
die ersten kalten Krümel
Mundwinkelanalyse
Beim Blick in den Spiegel denke ich: Besser ein gutgelaunter Melancholiker als ein fröhlich tuender Griesgram. Aber ich müßte mich mal wieder rasieren – zur Erleichterung der Mundwinkelanalyse.
Familiäre Problemverschiebung
Die mittlere bis späte Adoleszenz ist eine spannende, aber auch unangenehme Zeit für viele Jugendliche. Hauptursache ihrer Probleme sind nicht selten die Eltern, besonders die alleinerziehenden. Diese reden sich mit Erfolg ein, ihre Kinder seien außerordentlich schwierig und man müsse sie deshalb erzieherisch auf einen rechten Weg bringen (auf dem man oft selbst nie angekommen ist). Dabei sind die Ursachen der beklagten Übel darin zu suchen, daß die Eltern ein wenig spät dran sind mit ihrer erzieherischen Aktivität und außerdem oft heillos überfordert mit sich selbst: eigenen spätpubertären Anwandlungen, beginnender oder sich bereits der Vollform nähernder Midlife-crisis, Torschlußpanik, Erfolgszwängen und was sonst noch an Damoklesschwertern über ihnen schweben mag. Da kommt der nervige Jugendliche gerade recht, um in die Rolle des Sündenbocks gedrängt zu werden. Und wehe, er spielt nicht mit bei dem Projektionsritual, das daraus entsteht, und durchschaut das Ganze womöglich. Das kann zu Renitenz auf beiden Seiten führen.
Am Horizont der Zeit
Flügelgeflimmer
ein Horn in der Nacht
Blick in die Weite
wo schwarze Kerzen flackern
am Abgrund weißer Zeiten
Verwirte Zeiten
Bestatter trauern
wird zuwenig gestorben
Eingriff verschoben
Kranke zu Hause
in wirr verwirten Zeiten
kein Haus wird besucht
der Chirurg schärft das Skalpell
ist da Licht am Horizont?
Präsident Zahl
Interview des amerikanischen Präsidenten bei Fox News. Trump sagt, er selbst habe einen Test der geistigen Leistungsfähigkeit gemacht und großartig abgeschnitten. Biden solle das auch tun, doch er würde durchfallen, behauptete Trump. Auch hier, wie an anderer Stelle gab der Interviewer Wallace Kontra. Er habe den Test auch gemacht, und dieser sei nicht besonders schwer. Zum Beispiel müsse man das Bild eines Elefanten erkennen, führte Wallace aus. Klare Falschdarstellung, beschwerte sich Trump, weil die letzten fünf Fragen enorm schwierig seien. Wallace habe sie ganz sicher nicht beantworten können. Eine davon sei: Ziehen sie sieben von hundert ab.
»93«, antwortete der Journalist.
Ein Psychologe, der diesen Test im Bereich der Demenzfrüherkennung anwendet, dazu: »Wer sich damit brüstet, diesen Test bestanden zu haben, der kann sich auch damit brüsten, am Morgen die Schuhe selbst gebunden zu haben.«
Synästhetische Verwirrungen
Der metaphorische Gebrauch innerer Organe wie auch der Einsatz von Sinnesinstrumentarium im uneigentlichen Sinne hat nicht selten schwerwiegende psychosomatische Folgen.
Wer es mit dem Einsatz des Herzens in optischen Angelegenheiten übertreibt, kann sich leicht chronische Kreislaufbeschwerden einfangen oder gar Herzrhythmusstörungen. Als Nebenwirkung ist häufig partielle Erblindung festzustellen, weil der von Natur aus zum Sehen vorgesehene optische Sinn wegen der ihn entlastenden verstärkten Herzmuskeltätigkeit nicht ausreichend ausgelastet ist und wie alle bettlägerigen Muskeln Verkümmerungstendenzen unterliegt.
Zwar sprechen Menschen, die mit dem Herzen sehen, häufiger mit den Augen als andere, doch das reicht nicht, um die Aufgabenverschiebung zum Herzen hin vollständig auszugleichen. Dazu kommt nun, daß diejenigen, die bevorzugt mit den Augen sprechen, sich stärker auf die Nahrungsaufnahme konzentrieren, um ihren Mund in Bewegung zu halten, was nicht nur zunehmende Fettleibigkeit zur Folge hat, sondern auch Verdauungsbeschwerden aller Art nach sich zieht – bis hin zu Motilitätsstörungen, die sich durch Diarrhoe bemerkbar machen. Auch flatulentisches Völlegefühl gehört zu den unangenehmen Begleiterscheinungen.
Da nun Menschen, die bevorzugt mit dem Herzen sehen und mit den Augen sprechen, dazu neigen, sich auf ihr Bauchgefühl zu verlassen, und deshalb viele Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen, sind diese Bauch-Entscheidungen wegen der übermäßigen Gärung in dem genannten Bereich häufig recht unausgegoren. Bauchdenker, die mit dem Herzen sehen und mit den Augen sprechen, sollten wissen, was der Volksmund so treffend formuliert: Ein voller Bauch studiert nicht gern.
Eine innere Stimme sagt mir: Man hört nur mit den Ohren gut. Doch womit höre ich diese innere Stimme? Da sich mein inneres Ohr den größten Teil des Tages im Tinnitusrausch befindet und deshalb für die Wahrnehmung von inneren Monologen ausfällt, muß es sich bei der inneren Stimme um eine Art stummen Bauchredner handeln. Doch welches Rezeptionsorgan nimmt die Reden eines stummen Bauchredners wahr? Ein betäubtes Ohr ganz sicher nicht.