Über Benns »Ptolemäer«

Das Leben – dies Speibecken, in das alles spuckte, die Kühe und die Würmer und die Huren –, das Leben, das sie alle fraßen mit Haut und Haar, seine letzte Blödheit, seine niedrigste physiologische Fassung als Verdauung, als Sperma, als Reflexe – und das nun noch mit ewigen  Zwecken garniert …

 

Das ist die Reduktion des Lebens auf das, was übrigbleibt, wenn man die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichem Sein in den Trümmern der Ideologeme und dem idealistischen Denken betrachtet, wenn man sieht, was sich trotz des Kanons der moralischen Werte ereignet hat: Völkerabschlachten. Man mußte 1947 die moralischen Werte nicht mehr in den Mülleimer werfen, denn sie lagen längst darin, und auch wenn sie wieder herausquellen, so sind sie doch auf alle Zeit fragwürdig geworden. Oder richtiger noch: Ihre Fragwürdigkeit trat allen Sehenden vor Augen, aber sie hatten nicht mehr die Kraft, diese zu reiben. Noch Raskolnikow hatte unter seiner Tat gelitten, aber nun war das »moralische Fluidum«, wie Benn das nennt, zur Ruhe gekommen.

Was bleibt für Benn, ist individualistische Ästhetisierung in der Nachfolge Spenglers und vor allem Nietzsches. Benn nennt das prismatischen Infantilismus, Kinderspiele auf Erwachsenenniveau. Auch der Schöpfer, so vermutet Benn, hat nicht mehr vor mit den Menschen als »seine übliche Spielerei«, und das Gerede von der Menschheit ist nichts als Propaganda ohne jede teleologische Relevanz.  

Dem Irrationalen im Sein ist mit dem Denken nicht beizukommen, deshalb wird das Denken nur noch als eine Art mechanischer Zwang wahrgenommen, und es bietet sich für den einzelnen als Aufgabe (in seiner doppelten Bedeutung) der Ausweg, der keiner ist: sich abzufinden und mit Seeblick zu privatisieren. Und das Spiel der Kunst. Soweit Benns verbittertes Resümee.

Zynismus? Oder Wahrheit? Als wären diese Begriffe antonymisch. Was ist Zynismus? Die Antwort auf diese Frage hängt von der subjektiven Interpretation des Fragenden ab, von seiner Definition, die wiederum abhängig ist davon, wie er Wahrheit definiert. Dem Wahrheitsbesitzer ist jede spöttische Abweichung von seiner Wahrheit Zynismus. Erst recht die kritische Dekonstruktion seiner Wahrheitsbasis. In diesem Fall ist man versucht zu sagen, Benn spricht die Wahrheit auf zynische Art und Weise aus. Aber in Wirklichkeit ist es nur bitterer Sarkasmus, den wir hier sehen. Und Benns Wahrheit ist nur seine Wahrheit, so wie meine meine ist und deine deine; denn die alleinseligmachende Wahrheit propagieren nur Lügner, Gläubige und Verblendete.

Wahrheit ist stets perspektivisch, und nur einer könnte all diese verschiedenen Perspektiven zu einem Ganzen zusammenfassen. Das wäre dann die Wahrheit der Wahrheiten. Wir können das nicht, denn wir sind nur kleine Göttchen oder wären nur winzige Schnipsel vom großen Gott, wenn es ihn gäbe. Aber ob es ihn gibt, das wissen wir nicht.

Eine Antwort auf „Über Benns »Ptolemäer«

  1. Gretchen schreibt am 13.11.2009 um 12:29 Uhr:
    Guten Tag, Lyriost .. finde Deinen Essay nachdenkenswert. Aber wie und womit kann der Mensch und sich selbst noch trösten, um nicht im Trostlosen zu enden?

    Ganz liebe Grüße
    Gretchen

    Lyriost schreibt am 13.11.2009 um 17:04 Uhr:
    Hallo, Gretchen, der eine findet Trost in der Philosophie, etwa in des Sokrates Argumentation zur Unsterblichkeit der Seele im „Phaidon“, der andere, wie Schopenhauer, in den Upanishaden oder wie Nietzsche in der Tragödie. Aber alle, wenn sie ihn finden, ganz allgemein in der Kunst. Zyniker raten eher zu einer pharmazeutischen Lösung des Trostproblems.

    Gretchen schreibt am 13.11.2009 um 17:22 Uhr:
    Zyniker: Aber nur die kleinen Zyniker .. die zynischen Zyniker raten zum Freitod .. (es muß ja nicht immer alles vom Strick abhängen..) ..

    Gretchen schreibt am 13.11.2009 um 17:36 Uhr:
    ;-), habe es vergessen ..

    Lyriost schreibt am 13.11.2009 um 18:04 Uhr:
    Stimmt, das hatte ich vergessen: Auch Humor kann ein Trost sein.

    Dir ein schönes Wochenende.

    Gretchen schreibt am 13.11.2009 um 18:39 Uhr:
    Danke. Wünsche Dir viele angenehme Stunden – auch bloß zum Entspannen, und freundlich mögen Musen Dich berühren und erquicken ..

    Gruß
    Gretchen

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