In Wahrheit ist auch die Aussage, es könne keine absolute Wahrheit geben, auch nur eine relative, jedoch die relativ wahrste Wahrheit. Und relativ wahrscheinlich nahezu absolut richtig.
Tag: 3. Mai 2020
Nasenring
Im Gegensatz zur Reue, die uns dazu ermutigen kann, einen Fehler wiedergutzumachen und zukünftig anders zu handeln, als wir es getan haben, ist unsere Scham häufig ein Mittel der Selbsterniedrigung, ja Selbstzerfleischung und ein prächtiger Nasenring, an dem uns andere nach Belieben durchs Gelände ziehen können.
Schamgefühl
Es gibt kaum ein Gefühl, das überflüssiger ist als Scham. Selbstkritische Nachdenklichkeit ist weitaus besser und angemessener. Und läßt sich von andern nicht so leicht für deren eigene Zwecke der Machtentfaltung instrumentalisieren. Scham ist ein vorzügliches Mittel der Kontrolle des einzelnen durch die Gruppe, in der er sich bewegt. Wer sich schämt, räumt damit andern das Recht ein, sich selbst auf eine höhere moralische Stufe zu stellen. Schämt man sich – und sei es seiner Scham darüber, daß man sich zu schämen gezwungen sieht –, sollte dies zu möglicherweise schamüberwindender Nachdenklichkeit führen.
Denn wie die meisten andern Gefühle, ist auch das Schamgefühl durch Denken zu beeinflussen, ist Scham doch kein naturgegebenes Gefühl, sondern nichts anderes als Widerspiegelung konventionalisierter gesellschaftlicher Erwartungen. Stellt man diese durch Entwicklung von Selbstbewußtsein in Frage, relativiert sich die Meinung über die Notwendigkeit, fremden gesellschaftlich-moralischen Schamerwartungen gerecht zu werden und diese zufriedenzustellen. In der Folge wird sich das reflexartige Schamgefühl mehr und mehr verlieren, je intensiver man sich klarmacht, daß die Schamerwartung anderer nichts weiter repräsentiert als deren überwiegend unreflektierte, relative Wertvorstellungen, die unüberlegt zu teilen nur dann notwendig ist, wenn man sich außerstande sieht, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln, und die bewußtseinsmäßige Bequemlichkeit vorzieht, sich mit tradierten fremden Normen und Wertvorstellungen zu identifizieren.
Mit der Scham ist es ähnlich wie mit manchen Krankheiten: Sie geben uns eine Möglichkeit zur Flucht, und sie dienen manchmal dazu, Vermeidungshaltungen in unserer Entwicklung zu rechtfertigen. Wenn die Scham nicht in irgendeiner Weise Lustgewinn bedeutete, würde sie nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen – oder gar keine.
Der Trend zur Wende
In früheren Zeiten gab es wahrnehmbare Trends, Entwicklungen, die unsere Lebenswelt je nach Blickwinkel mehr oder weniger behutsam positiv oder auch negativ veränderten. Heute sieht man nur mehr ein immer schnelleres Oszillieren von Wendebewegungen, und in der zunehmenden Beschleunigung der Trendwenden ist mittlerweile kein anderer Trend mehr zu erkennen als der Trend zur Wende.
Dolchstoß
Scharfer Sinn regt sich nur
im Zeitspalt zwischen dem Ticken
im formlosen Schweigen der Uhr
in Leere zwischen den Blicken
Weit und gedehnt hallt der Schall
am Rande des Zeitgenormten
ist doch ein Stich bloß ein Knall
im Innern des Ungeformten
Blasser Regenbogen
Wenn einer sagt: Die andern denken schwarzweiß, in unsern Köpfen jedoch funkeln die Gedanken wie ein Regenbogen, dann ist das ziemlich schwarzweiß gedacht.
Blaß, der Regenbogen.
Streit
Wohin willst du gehn
Wissen vernebelt Wünsche
du wirst schon sehen
der Fuß streitet mit dem Pfad
wäre gern Lenker
der Pfad kennt den Weg
Unter Einäugigen
Unter den Blinden ist der Einäugige König, sagt man. Aber wer ist König unter den Einäugigen?
Der mit der größten Klappe.