Der befreite Blick

Hatte er gerade keine Cessna oder ein vergleichbares Luftfahrzeug zur Hand, wollte aber dennoch einen Vogel-Blick auf die großen Städte werfen, machte er sich auf die meist kurze Suche nach Funk- oder Fernsehtürmen oder die etwas längere nach turmartigen Hochhäusern, ließ sich mit oft allzu vielen anderen Schwitzenden in stets allzu kleine Kabinen zwängen und in die Höhe katapultieren. Wenn das Wetter es erlaubte, genoß er dann die windigen Panoramen und bisweilen auch eine spektakuläre Sonnenversenkung, die indes allesamt auch nicht annähernd die Bildqualität der Kunstpostkarten erreichten, die er den Daheimgebliebenen zukommen ließ.

In Florenz nun war es anders: kein hohes Stahlmonument und keine merkantile Betonskulptur, statt dessen Giottos alter Glockenturm, der ihm auf den ersten Blick am geeignetsten schien, seine Sucht nach Vogelperspektive zu befriedigen. Der Besucherandrang am frühen Morgen war gering, keine Trauben, keine Schlangen, nur ein paar etwas zu breit geratene, mürrisch dreinblickende amerikanische Touristen, die neben dem Eingang standen und, wie er schmunzelnd und erfreut registrierte, das Fehlen elevatorischer Unterstützung beklagten.

Im Nu war er oben, hatte die vierhundert und ein paar Stufen mit seinen Turnschuhen behutsam aus dem Morgendämmer geweckt, trat hinaus in die unerwartet belebte Luft und schaute sich um. Im Rücken freundliches Dachpfannenflickwerk, sah er hinab auf die Hausdächer mit ihren Terrassen im erstaunlich dicht stehenden warmfarbigen Steinmeer und streckte befreit die Arme aus, sich wundernd über die gutgenährten plumpen Tauben, die sich trotz ihrer Körperfülle leichtflügelig nach oben bewegten. Er fragte sich, was sie dort suchen mochten, denn zu futtern gab es unten auf den Piazzen. Nun, vielleicht waren es die Metaphysiker unter den Tauben, auf der Suche nach dem Taubengott, dachte er, aber wahrscheinlich lieben auch Vögel die ihnen eigene Perspektive mehr als den Froschblick.

Als der Panoramenjäger weiter nach oben in Richtung der Domkuppel schaute, sah er dort keine Vögel, aber zu seiner Ernüchterung einige mit Ferngläsern bewaffnete Menschen, die auf ihn herabblickten, ein wenig spöttisch, wie ihm schien, und andere, die lachend gestikulierten. Da wurde ihm klar: Der Turm war nur zweite Wahl, er war nicht hoch genug geraten für den wahrhaft befreiten Blick.

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