Über Kritik

Da wir in unserem fortgeschrittenen Denken beim Pluralismus der Perspektiven angekommen sind, sollten wir diesen auch bei der Kritik anwenden: Es gibt viele Formen von Kritik, und wir müssen in jedem einzelnen Fall herausfinden, ob die Kritik Wert für uns oder an sich hat oder nicht. Auch die Frage, ob eine Kritik „akzeptabel“ ist oder nicht, hängt ab von den Maßstäben, die wir anlegen, um Kritik zu beurteilen. Eine inhaltlich wertvolle Kritik kann ebenso unakzeptabel sein, zum Beispiel in der Form, wie eine von geringem Wert akzeptabel.

Einen allgemeingültigen Maßstab für Kritik gibt es nicht. Am besten scheint mir jedoch solche Kritik zu sein, die sich offen zeigt für jede Form der Kritik an der Kritik. Obgleich auch die selbstkritische Kritik alles Recht hat, auf exogene Kritik kritisch zu reagieren. Eine Kritik, die Kritik auszuschließen versucht, verliert ihr Recht.

These – Antithese – Synthese, das ist ein guter Weg, vorausgesetzt, die Synthese gebiert neue Thesen und Antithesen und erstarrt nicht in Selbstgefälligkeit.

Wie das Denken allgemein, so ist auch Kritik als Prozeß zu betrachten und nicht als Endpunkt eines Prozesses.

Der Hochmut und der Fall

Wenn man einige Erfahrung im Fallen gesammelt hat und die Fallgesetze nicht nur theoretisch kennt, sondern auch ihre praktische Anwendung mit der ein oder anderen schmerzlichen Empfindung leiblich durchzuexerzieren gezwungen war, kann man sich wie eine Katze auf wohlbekanntem Terrain ohne weiteres auch mal eine Spur Hochmut leisten, wenn man glaubt, fremdem, gänzlich unangemessenem Hochmut begegnen zu müssen. Aber nur dann – und auch dann nicht ohne das Bewußtsein, daß dies ein selbstironisch-spielerischer Akt ist und kein integraler Ausdruck der Persönlichkeit.

9. November

Am 9. November denke ich an vieles. Immerhin war ich vor dreißig Jahren zu Fuß von der Willibald-Alexis-Straße in Kreuzberg zum Checkpoint Charly gelaufen, um zuzuschauen, wie sich die Gefängnistore öffneten.

Das war schon ein besonderes Erlebnis, und ich dachte in diesem Augenblick, der ein Wendepunkt in der Weltgeschichte, der europäischen Geschichte, besonders aber auch in der deutschen Geschichte war, nicht an andere Tage mit dem Beinamen 9. November, die ganz genauso Wendepunkte in der deutschen Geschichte waren. Und da gibt es einige.

Heute denke ich vor allem daran: Während sich für die einen 1989 die Tore öffneten, wurden den anderen 1938 die Türen eingetreten, und nach Verunglimpfung, Mobbing und Diskriminierung begann nun die Verfolgung der Juden, die in industrieller Massenvernichtung mit dem Ziel der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« gipfelte. 

Vor allem aber denke ich daran, daß es zwischen beiden Ereignissen einen Zusammenhang gibt. Leider denken nicht alle daran, im Osten noch weniger als im Westen Deutschlands.

 

 

 

Augenblick

Im Gespräch mit meiner heute mal wieder entzückenden Frau, umgeben von sonnigem leichtem Leben, sitzend bei einer Lasagne mit Parmesan und ungesäuertem Brot in der Taverna Divina Commedia, via dei Cimatori, unweit von Dantes Geburtshaus, trifft mich diese Musik mit unbeschreiblicher Gewalt und stürzt hinunter bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele. Ich kann nicht mehr essen, bin sprachlos und schaffe es nur mit Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Völlig überrannt von meinen Gefühlen, deren Ursache für mich im Dunkel liegt, brauche ich eine Weile, um zu meiner Umgebung und zum Primi piatti zurückzufinden. Die nette Bedienung war so freundlich, mir den Namen der Musikerin aufzuschreiben, die mich für einen Augenblick aus dem Spiel genommen hat: Loreena McKennitt.

The Highwayman

und

Arthas Destiny

Hungertücher

Wie zu hören ist, sollen nach der Bundestagswahl unentgeltlich schmucklose linnene Hungertücher an alle ausgegeben werden. Da jedoch der Etatansatz voraussichtlich nicht ausreichen wird, um der gesamten Bevölkerung solche Schmachtlappen zukommen zu lassen, werden die Bezieher hoher und höchster Einkommen gebeten, sich selbst mit diesen traditionsreichen Sakralkunstwerken zu versorgen. Die Finanzverwaltung teilte mit, daß die Anschaffung von Hungertüchern als Sonderausgabe von der Steuer abgesetzt werden kann. Dabei wird auch der Kauf kunstvoller Tücher aus edelstem Material steuermindernd Berücksichtigung finden.

Wachstum

Solange die Bäume im eigenen Garten prächtiger wachsen als die des Nachbarn und reichlich Früchte tragen, ist der Gartenbesitzer geneigt, das Thema Schatten zu vernachlässigen. Wenn aber dann auch bei den mickrigen Bäumchen in Nachbars Garten ein ungeahnter und ungebremster Wachstumsschub zu beobachten ist, beginnt sehr bald das immer lautere Nachdenken über den Schattenwurf der Bäume und das Theoretisieren über die allgemeine Notwendigkeit von Wachstumsbegrenzungen.

Gedanken

Gedanken kommen einem nur dann, wenn man sich Zeit zum Nachdenken nimmt. Und Zeit zum Nachdenken sollte man sich nehmen, wenn man ein Bild dessen bekommen möchte, was gemeinhin die Wirklichkeit genannt wird. Mehr denn je aber ist es heute so, daß die meisten Menschen ihre freie Gedankenzeit damit zubringen, eine kognitive Repräsentanz ihrer persönlichen Interessen einzurichten und zu pflegen, statt ihre Gedanken wie eine Lampe in einer dunklen Höhle zu benutzen.

Plastizität in der Lyrik

Für Nietzsche, auf den der Beuyssche Kunstbegriff wesentlich zurückgeht, ist die »plastische Kraft« der Grundtrieb der Natur, und wenn wir das bejahen, dann können wir sicher sein, daß diese Kraft zwar zeitweise durch Banalitäten und den Wunsch nach Bequemlichkeit und Ruhe überlagert werden kann, sich jedoch stets wieder aufs neue zu Wort melden und zu machtvollen, verstörenden skulpturischen Strukturen ganz neuer Art gerinnen wird. Das Leben ist nicht so leicht totzukriegen.

Für die formbewußte Lyrik bedeutet das, Gebilde wachsen zu lassen, in denen sich diese Plastizität deutlich manifestiert, ohne daß das Blut durch ein Übermaß an Gerinnungsfaktoren in seinen Wallungen beeinträchtigt wird. In diesem Sinne ist das Skulpturische in der Lyrik gleichermaßen hart und weich. Es gilt, lebendige Steine zu schaffen.

Einfach betrachtet

Alles Komplizierte ist ebenso einfach wie alles Einfache kompliziert. Unsre Sicht ist abhängig von der Betrachtungsweise und den optischen Hilfsmitteln. Ohne Fernglas ist ein Flugzeug am Horizont nur ein Punkt am Himmel, und unterm Mikroskop ist ein Regentropfen ein kleines Universum.