Beim Lesen von Thomas-Mann-Texten kam mir der Gedanke, ob sich nur Extremegozentriker mit ausgeprägter Ruhmsucht ausreichend für das Laster der Hypochondrie qualifizieren können, und ich fragte mich, ob nicht Ruhmgeilheit und Anerkennungsverlangen die wichtigste Quelle von Hypochondrie und Egozentrik sein könnten.
Monat: Oktober 2019
Töten
Keine andere schlechte Angewohnheit ist so tief verwurzelt in der Geschichte des Lebens wie das Umbringen anderer Lebewesen. Töten hat Tradition.
Tirade 138 – Erste Zeichen
Blendendes Knacken
rotbraune Schalenbrecher
Edelholzdesign
bald blühen Nachtgedanken
in sommerleeren Köpfen
Hoffnung
Jeder Hoffnung folgt irgendwann Enttäuschung, gerade wenn der Hoffnung über längere Zeiträume kräftige Nahrung zugeführt wurde. Der Enttäuschte wird im Augenblick der Enttäuschung, wundgehofft, wie er ist, manchmal dazu neigen, zukünftig auf die Hoffnung verzichten zu wollen, um sich Enttäuschung zu ersparen. Doch auch die Hoffnung, auf Hoffnung verzichten zu können, führt nicht zur Ruhe, sondern auch nur wieder zur Enttäuschung: Ist doch jeder Atemzug voller Hoffnung, Luft zu bekommen. Hoffnung ist nichts Akzidentielles, das man so einfach abstreifen könnte. Es sei denn …, aber auch das ist ja eine Art Hoffnung, so voller Unwägbarheiten wie jede andere.
Gedankenquellen
Die erfrischendsten Gedankenquellen finden sich dort, wo Tiefsinn und Trivialität miteinander im Clinch liegen und das Geschehen von einem stoisch-humorvollen Ringrichter kommentiert wird.
Kluge Eltern
Etwas über fünfzig Prozent der Amerikaner wünschen sich kluge Kinder. Schöne Kinder wünschen sich weit über neunzig Prozent. Kluge Eltern.
Bibliographisches Institut
Im Duden, ehemals maßgeblich und amtlich in Fragen der Rechtschreibung, heute jedoch hauptsächlich maßgebend in seiner Maßlosigkeit willkürlicher Empfehlungen der eigenen rechtschreiblichen Präferenzen von orthographischen Varianten, finde ich die Empfehlung, das Wort »bibliographisch« nicht mehr zu verwenden, sondern durch »bibliografisch«zu ersetzen. Nun denke ich natürlich nicht daran, mich solcherlei geschmäcklerischer Anmaßung zu unterwerfen. Aber, so dachte ich mir, der Duden sollte sich doch wohl an seine eigenen Empfehlungen halten.
Der Duden erschien bisher im Verlag Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, Mannheim. Also nicht Bibliografisches Institut & F.A. Brockhaus AG. Da Eigennamen weder der vom Rat für deutsche Rechtschreibung zu verantwortenden Rechtschreibreform unterliegen noch den eigenwilligen Auslegungen dieser Reform durch die Duden-Redaktion, war die Schreibweise mit »ph« bisher gerechtfertigt.
Unlängst fand jedoch eine Hauptversammlung dieser Firma statt, die den Duden herausgibt. Da sich die Besitzverhältnisse geändert haben, stand eine Namensänderung an, und eine Umbenennung wurde beschlossen. Zukünftig firmiert man unter »Bibliographisches Institut«. Ohne Brockhaus, aber wie gewohnt mit »ph«.
Nun frage ich mich: Warum hält man sich beim Duden nicht an die eigenen orthographischen Empfehlungen, deren Berücksichigung man mir seit geraumer Zeit mit dicken gelben Farbklecksen so sehr ans Herz gelegt hat?
PS: Der Duden habe »sich immer stark gemacht« für eine einheitliche Rechtschreibung, kann man auf der Website des Verlages lesen, wo die Parodie eines Interviews mit dem Redaktionsleiter geboten wird. Dummerweise wird »stark gemacht«, im Sinne von »sich für etwas einsetzen«, in reformierten Texten seit längerem zusammengeschrieben. Vielleicht sollte man beim Duden mal das eigene Korrekturprogramm verwenden. Oder sich, besser noch, für eine externe Prüfung von Dokumenten »starkmachen«.
Streben nach Glück
Nicht so sehr sich verändernde Lebensverhältnisse sind verantwortlich dafür, daß auch glückliche Menschen ihr Glück allzu leicht schwinden sehen. Unglücklich werden glückliche Menschen vor allem dann, wenn sie zu sehr danach streben, ihr Glück nicht nur festzuhalten, sondern noch glücklicher zu werden.
Reife
Man ist niemals zu reif für sein Alter, aber oft zu jung für seine Falten.
Hinterherdenken
Es ist schon erstaunlich, wie weit unsere Kultur des Hinterherdenkens, des Paraphrasierens und Zitierens entfernt ist von dem, was ich als Ausdruck menschlicher Denkfähigkeit betrachte. Kaum hat man einen eigenen Gedanken, wird nachgefragt, von wem er entliehen sein könnte, so als sei aufmerksames Selbst-Denken etwas Abseitiges, Unnatürliches.
Aber wen wundert das, ist doch schon der Begriff „Nachdenken“ doppeldeutig. Natürlich darf nicht übersehen werden, daß jede ernsthafte Beschäftigung mit dem Denken anderer ein Nach-Denken ist und unser eigenes Denken durch die Gedanken anderer angeregt und befruchtet wird und unsere Sichtweisen von ihnen beeinflußt werden. Aber ist das nicht von jeher so?
Wir müssen schon weit in die Antike zurückgehen, um auf Denker zu treffen, die bei ihrem Blick auf Welt und Menschen nicht auf den Schultern anderer standen.
Wandrers Neid
Wenn der Neid an ihnen nagt, entdecken die Menschen gern ihre ansonsten verborgene moralische Ader. So wird der Wanderer auf Schlappen geneigt sein, dem mit dem festen Schuhwerk vorzuwerfen, er zertrete mit seinen Füßen unnötig viele von den zarten Blumen und sein fester Tritt schade den Wurzeln des Weges über Gebühr.
Dominanzstreben
Besonders ausgeprägt ist die Abneigung gegen dominantes Verhalten traditionell bei denen, die mit ihrem eigenen Dominanzstreben gescheitert sind. Da redet man gern der Gleichheit das Wort. Wortreich abgelehnt wird erhebendes Streben auch von jenen, die auf durch Dominanzverhalten ergatterten hohen Stühlen sitzen und spüren, wie es unter ihren Hintern vibriert, weil jemand die Säge angesetzt hat an ihre bequemen Sitzgelegenheiten. Besonders die Stuhlsitzer mit den kurzen Beinen werden leicht nervös und zappeln rum, wenn einer Hand an ihren Stuhl anlegt. Sie schreien Zeter und Mordio ob des bösen, unmoralischen Dominanzstrebens derer, deren Köpfe außerhalb der Reichweite von Fußtritten liegen.
Leuchten
Fuß vor Fuß
der Weg hinauf
hinabhinauf
durch Schattenwüsten
beleuchtet vom
ewigen Licht unser
Leuchten leuchte uns
leuchtet in uns
wir leuchten
uns heimlich
heim
Wörter und Worte
Wörter, nicht Worte, haben keinen Kern. Sie sind eine Erfindung von Sprechenden, die zur Konvention geworden ist, gleichförmig oder unterschiedlich benutzt wird, grafisch eingefangen, aufgeblasen mit gasförmigem, flüchtigem Scheinsinn, vergessen und wiederbelebt, mit neuem Scheinsinn aufgeladen und so weiter. Zudem sind sie Teil des Kommunikations- und Selbstvergewisserungssystems Sprache, in dem jedem Wort eine Funktion zugewiesen wird. Ein Wort als Begriff hat keine eigenständige Substanz.
Worte dagegen sind das Ergebnis eines wörternutzenden Worteschaffenden, und sie bestehen aus einem Haufen von Wörtern. Worte, nicht Wörter, sind das Ergebnis von Gedankenoperationen, und man kann versuchen, in diesem Haufen von Wörtern, die man Worte nennt, so etwas wie einen Kern zu finden. Manchmal gelingt das, aber oft gelingt es nicht, und Worte erscheinen uns ebenso arbiträr wie Wörter.
Looking 2009
Tradition
Du lernst zu laufen auf
verblichnen Knochen
und sprechen mit
zerbrochnen Schädeln
trinkst Blut wie
alle Diadochen
versuchst dich in
die Welt zu fädeln.
Verbrauchte Luft
füllt deine Lungen
noch ehe du das
Licht erblickst
und eigne Worte
sind verklungen
eh du vor ihrem
Klang erschrickst.
Du siehst den
Platz in den Ruinen
wo mancher seinen
Tag verbracht
da waren Kerker
Guillotinen und
manchmal spürst du
dort die Nacht.
Und strebst du still
nach Lichterleben
den Kopf gedreht
zur klaren Sicht
dein Drang nach
Freiheit zielt daneben
die Konvention
erlaubt das nicht