Das Urteil der Zeit ist die Vergänglichkeit.
Monat: Juli 2019
Vorurteile
Manche Menschen stecken so voller Vorurteile über andere, daß man ihnen noch nicht mal ein Urteil über sich selbst zutrauen mag.
Würde
Was ist das für eine Phantasmagorie, wenn ich, eingesponnen im Netz der Sitten und Gebräuche, gesellschaftlicher Konventionen, von andern beschlossener Gesetze, vollgepumpt mit moralischen Vorurteilen der Kultur, von meiner Würde spreche, von meiner und der Würde anderer, die hauptsächlich darin besteht, den Würdenträgern aller Länder die Taschen zu füllen, Leuten, die neben der Verantwortung die Würde vor sich hertragen (und manchmal auch um den Hals), während die große Masse der Menschen für die wirklichen Lasten zuständig ist? Und damit die Leidtragenden sich nicht allzu traurig und beladen fühlen, gesteht man ihnen, zumindest auf dem Papier, auch eine Würde zu, leicht zu tragen, denn sie sind schon beschäftigt mit anderen Gewichten: Man verleiht ihnen die innere Würde. Und nicht nur diese, sondern gleich auch noch die Würde der Arbeit, sofern diese nicht gegen die guten Sitten verstößt.
Da geht die Arbeit, und sei sie noch so entfremdet, gleich besser von der Hand, wenn der Mensch sie und sich selbst als etwas Würdevolles anstaunen kann. Als wären gerade diese Begriffshalluzinationen vom »inneren Wert an sich« (mit dem an sich hatte es der Königsberger Trockentüftler), von der »Menschheit selbst als eine Würde«, wie Kant das nennt, nicht ein phantastisches Mittel, das Streben des Menschen nach persönlicher Autonomie, die doch die Grundlage jeder wirklichen Würde sein muß, auszuhebeln, dieses Streben, das einzig den Namen Würde verdiente, wäre er nicht schon so sehr in den Schmutz gezogen, daß man ihn ohne Ekel anzufassen sich getraute.
Weil aber die Menschheit selbst als eine Würde gesehen wird, wird diese nun des einzelnen Bürde, denn er hat nach Kant die Pflicht, die »Würde der Menschheit in seiner Person zu bewahren«. Diese Kantsche Autonomie ist jedoch keine tatsächliche Autonomie, sondern die Grundlage der Fähigkeit, »moralische Gesetze frei und selbstbestimmt aufstellen und befolgen zu können«. Und da wir die moralischen Gesetze bereits weitgehend fertig vorfinden – an dieser Stelle ein Dankeschön an die Kirchen und Religionsgemeinschaften –, können wir uns mit unsrer Autonomie vollständig auf die Befolgung der Gesetze konzentrieren. Wenn wir das schön artig und anständig tun und nicht vom Weg abkommen, jedenfalls nicht allzu weit, haben wir das Recht, uns, des Glanzes unserer inneren Würde sicher, ein wenig in die äußere Würdesonne zu begeben. Wir haben Würde, wie schön.
Und wie wir da so liegen auf dem Würdegrill, stellen wir mit einem Mal fest, daß um uns herum lauter kalkige Gestalten zu sehen sind, denen es offensichtlich an Würde mangelt, sei es weil sie ihnen vorenthalten wird, obgleich doch jedem Menschen diese Würde zusteht, sei es weil sie sich würdelos verhalten und damit ihre Würde zu verlieren drohen. Nun stehen wir, falls wir nicht zu sehr mit der persönlichen Würdepflege beschäftigt sind, ein wenig schläfrig zwar, aber doch entschlossen auf und sind ehrlich entrüstet. Und würdevoll, wie wir mittlerweile sind, beginnen wir zu ermahnen. Und wir tun das gerecht: Wir weisen die Unterdrücker der Würde auf den Umstand hin, daß niemand die Akzeptanz seiner Würde vorenthalten, niemandem die Würde abgesprochen werden dürfe, da er sie von Anfang an besitze und nicht verlieren könne, es also sinnlos sei, sie ihm nehmen oder vorenthalten zu wollen – und die Würdelosen ermahnen wir, ihrer Würde gerecht zu werden wie wir selbst, wobei wir freilich vergessen zu sagen, daß sie, ganz gleich wie würdelos sie sich auch immer verhalten mögen, nach unserer Würdedefinition ihrer Würde unter allen Umständen sicher sein können.
Wie man sehen kann, ist der Begriff »Würde« für mich nicht wie für viele andere ein Analgetikum, sondern ein Emetikum. Und ein Absurdikum sowieso.
Diogenes und die Würde
Diogenes von Sinope, der »verrückte Sokrates«, wie Platon ihn genannt haben soll, stand auf dem Marktplatz und onanierte. Einige der Vorbeikommenden lachten, andere waren erzürnt und warfen ihm böse Blicke zu. Einer rief: »Du bist würdelos«, und trat so heftig nach Diogenes, daß der umfiel.
»Warum versuchst du, mich meiner Würde zu berauben, indem du nach mir trittst«, fragte der Philosoph. «Willst du dich dafür rächen, daß die Konventionen dir deine Würde streitig machen? Da hast du mit mir den Falschen erwischt. Ich scheiß auf die Konventionen. So wahre ich meine Würde, die in meiner Unabhängigkeit besteht.«
Und als der andere nichts sagte, sondern ihn nur unvermindert feindselig anschaute, fügte Diogenes hinzu: »Ist es nicht des Menschen unwürdig, sich zu verstecken und heimlich dem Ruf der Natur zu folgen, in Abgeschiedenheit, durchdrungen von falscher Scham, seine Bedürfnisse zu befriedigen?« Dann rollte sich Diogenes in eine Decke und sagte: »Nun verschwinde, ich möchte ein wenig ruhen. Und wenn du nachgedacht hast über meine Worte, darfst du mich gerne wecken. Ich werde dir zuhören, und wir können über alles reden.«
Regelschwäche
Der Duden gibt gern überflüssige und oft unsinnige Empfehlungen, aber hält sich nicht mal an die selbst dargestellten Regeln. Immer wieder witzig.
Würde und Stolz
Würde ist oft nichts anderes als verkleideter Stolz.
Wortreich
Wenn einer wortreich erklärt, es sei vollkommen unsinnig, viele Worte zu machen, dann frage ich schon mal nach dem Grund seiner eigenen Wortgebirge, und dann kommen die merkwürdigsten Antworten. Hin und wieder auch mal eine wortreiche Beschimpfung. Die schönste Reaktion aber ist die wortreiche Aufforderung, zwischen den Zeilen zu lesen. Irgendwo wird der Sinn zu finden sein. Und wenn ich dann zwischen den Zeilen lese und über das Gelesene sprechen will, kommt entweder keine Reaktion mehr oder die karge Bemerkung, ich hätte nicht richtig gelesen.
Esoterik und Intellekt
Einige Esoteriker in der Nachfolge Oshos neigen dazu, den Intellekt intellektuell zu verteufeln: Sie kleben sich mit Hilfe ihrer reduzierten Interpretation des Intellekts, den Teil für das Ganze nehmend, einen Pappkameraden mit Namen Intellekt zusammen, stellen jede Menge leere Flaschen drumherum auf, und dann stoßen sie alles mit dem gleichen reduzierten Intellekt und großem Getöse wieder um.
Wen kann das überzeugen, wenn nicht ihren Intellekt? Wenn man, wie ich, davon ausgeht, daß das, was dort als Intellekt bezeichnet wird, nur das ist, was der nichtintuitive Intellekt durch analytische Dekonstruktion des Denkens übrigläßt, dann kann man nur lächeln darüber, wie sie sich selbst auszutricksen versuchen, rein intellektuell. Das, was dort als Intellekt beschrieben wird, ist doch schon eine Reduktion des Intellekts mit Hilfe des Intellekts. Das ist nicht schwer zu verstehen, jedenfalls dann nicht, wenn der Intellekt um diese Tendenz seines Wesens weiß und Wert darauf legt, nicht von sich selbst auf einen Teil seiner selbst reduziert zu werden. Das kann man natürlich nur verstehen, wenn man nicht rein intellektuell an die Beschreibung des Intellekts herangeht. Das, was verschiedentlich von Esoterikern als Intellekt beschrieben wird, um das Denken allgemein zu desavouieren, ist nur ein Teil dessen, was vom Denken übrigbleibt, wenn sie es reduziert-intellektuell zergliedern. Das, was dort als Denken bezeichnet wird, ist kein reales Bild, sondern ein modellhaft-intellektuelles Bild des Denkens.
Mißverständnis
Nach dem Liebesspiel
sagte Frau Bär
zu ihrem Gatten:
Du bist eine Sau, Bär.
Das betrübte ihn
und er tapste zum Fluß
dort wusch er sich und
rubbelte sein Fell.
Als er zurückkam
strahlte er und sagte:
Nichts ist sauberer
als ein sauberer
Bär.
Demut
Demut braucht Mut.
Glauben und Denken
Jedem Glauben liegt das Streben nach einem Gefühl der Geborgenheit zugrunde, und der Verzicht auf beständige Glaubensinhalte ist ein Sich-Schicken ins Ungeborgene, ein Sprung in die Leere, der durchaus Mut erfordert, der aber notwendig ist, um das Sehen zu lernen. Sonst sehen wir nur, was andere uns zeigen, und übersehen die Löcher in den Glaubensdecken, die uns andere gereicht haben und die wir uns umhängen – voller Verwunderung, daß es so etwas gibt, und voller böser Vorahnung, daß die fremden Decken uns nicht dauerhaft erwärmen werden.
Und wenn uns das überfordert, was wir durch die eigenen Augen zu sehen bekommen, können wir jederzeit wieder unter eine der Glaubensdecken kriechen, so wir dann noch eine finden, die keine Löcher hat.
Über Zwang
Zwang ist Zwang. Sicher. Aber es ist ein Unterschied, ob man einen Hungrigen zum Essen zwingt oder einen Satten. Und der Zwang, dem ein Wehrloser ausgeliefert ist, ist ein anderer als der, der die Wünsche eines wehrhaften Autoritätshörigen befriedigt.
Schlaf des Selbstgerechten
»Er schläft den Schlaf des Gerechten«, sagt man, denn ein gutes Gewissen sei ein sanftes Ruhekissen. Wie so manche Redensart, ist die vom »Schlaf des Gerechten« nicht allzu ernst zu nehmen. Selbstgerecht, sich ihrer Schuld nicht bewußt, guten Gewissens haben die Ungerechten häufig einen ruhigeren Schlaf als die andern. Daher sollte es besser heißen: Er schläft den Schlaf des Selbstgerechten.
Krankheit
Für einen Großteil der (zumindest scheinbar) gesunden Menschen ist die offensichtliche Krankheit der anderen in erster Linie eine willkommene Gelegenheit, (sich selbst) auf die eigene Gesundheit hinzuweisen.