Literaturezeption als reduzierte Lektüre

Jeder, der einen literarischen Text liest, hat seine eigene Herangehensweise, seine ganz persönliche Lesart. Teilt er Ergebnisse seiner Lesart anderen mit, neigen diese häufig dazu, diese Lesart eines anderen als reduziert und damit minderwertig zu betrachten, weil sie beim andern das Eigene, Widerspiegelungen der eigenen Lesart vermissen. Es ist jedoch ganz natürlich, daß der andere der andere ist. Wenn ich die Gefühle, Erfahrungen und Erkenntnisse anderer nicht teile, dann bin ich ich, aber keineswegs reduziert. Von Reduktion zu sprechen setzt voraus, daß man das Ganze kennt. Aber wer kennt schon das Ganze eines Textes, die dazugehörigen Subtexte, den Prätext aus biographischen Details des Autors, des jeweiligen Lesers und nicht zuletzt die intertextuellen Voraussetzungen? Jeder kennt nur seine Version davon. Daß jemand nun seine eigene Version des Ganzen mit dem Ganzen als solchen verwechselt, verstehe ich, denn die meisten machen das so. So werden sie selbst (in ihrer Vorstellung) zu ganzen Persönlichkeiten, und die anderen werden (ebenfalls in der Vorstellung) degradiert. Diese Mischung aus Aufblasen des Eigenen und Destruieren des andern steckt meist dahinter, wenn einer sagt, ein anderer habe eine reduzierte Lesart. So simpel arbeitet das Ego.

Eine Antwort auf „Literaturezeption als reduzierte Lektüre

  1. Anais schreibt am 06.02.2009 um 12:50 Uhr:
    Es wäre wohl schrecklich langweilig und unfruchtbar, wenn alle die gleiche Lesart hätten. Es scheint nur manchmal so schwer, sich der Lesart des anderen zu öffnen und sie auch für sich selbst zu bedenken und zu reflektieren.

    Dabei können Gegensätze doch sehr bereichernd und anregend sein.

    Lyriost schreibt am 06.02.2009 um 14:13 Uhr:
    Das sagt sich so leicht und ist theoretisch so einleuchtend.
    In unserer Konkurrenzgesellschaft der Egos geht leider das Erkenntnisinteresse in aller Regel im Rivalitätszirkus der Statusbewußten unter. Und daß wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben, ist kein Zufall, sondern scheint
    tief in unserm Wesen angelegt zu sein. Ich fürchte, was den Antrieb betrifft, bin ich selbst nicht wesentlich anders. Mir ist diese Tatsache nur bewußt. Immerhin etwas. 😉

    Anais schreibt am 06.02.2009 um 14:36 Uhr:
    Du sagst es, immerhin etwas. 🙂

    Unbreakable schreibt am 06.02.2009 um 17:18 Uhr:
    Das ist mehr das männliche Ego – das Ego der Frau arbeitet woanders so simpel. ;o)

    Lyriost schreibt am 06.02.2009 um 21:13 Uhr:
    Da bin ich mir nicht so sicher, Unbreakable. Die meisten Erlebnisse dieser Art habe ich mit Frauen gehabt. Und auch für das, was ich oben schrieb, ist der Auslöser die letzte Begegnung mit einem weiblichen Ego. Die Unterschiede in diesem Bereich sind nach meiner Erfahrung geringer als gedacht. 😉

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