Aufgewachsen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Winter noch Winter waren, was man daran sah, daß morgens, wenn man sich aus dem warmen Bett quälte, der Blick nach draußen nicht möglich war, weil an den Fenstern die Eisblumen grinsten, bin ich doch etwas amüsiert ob des weinerlichen Krisengeredes, das durch unser Land wabert wie die Alkoholschwaden an den Stammtischen.
Damals wusch man sich morgens kalt, denn es kam nicht einfach warmes Wasser aus der Wand, wie das heute hierzulande fast überall ganz normal ist. Man freute sich über eine duftende Apfelsine und streckte sich am Wochenende, wenn der Badeofen angeworfen wurde – so komfortabel hatte es doch schon mancher, aber durchaus nicht alle –, wohlig in der Wanne. Wie war das Leben schön.
Den Begriff Unterhaltungselektronik gab es noch nicht, denn es war eher Arbeit angesagt als Unterhaltung, und so wuchs ich erst mal ganz ohne Fernseher auf, und wir fuhren nicht mit dem Auto zur Schule oder zur Arbeit, sondern mit der Bahn. Oder wir gingen zu Fuß. Ja, man lief damals noch selbst.
Wie das heute ist, möchte ich hier nicht ausführen, das weiß jeder selbst. Viele haben sich so weit entfernt vom Leben, daß sie den Kontakt zu ihrer tatsächlichen Existenz weitgehend verloren haben und nur noch im Warmen auf den Sofas sitzen und über mögliche Einschnitte in ihren Lebensstandard lamentieren, was nicht bedeutet frieren und hungern, sondern vielleicht nicht so viele Städtereisen und nicht alle drei Jahre das neueste Modell von BMW. Und der Single fragt sich, ob er die 100-Quadratmeter-Wohnung auch in der Krise noch wird halten können.
Wenn die angekündigte Wirtschaftskrise einen Sinn haben soll, jenseits aller Ökonomie, dann den, die Spirale zum Übersatten zu kappen und viele Menschen dazu zu bringen, mal darüber nachzudenken, ob Wohlstand tatsächlich deckungsgleich ist mit materiellem Schnickschnack. Jede Krise, selbst eine zur Krise hochgeredete Pause des Wirtschaftswachstums, bietet eine Chance zum persönlichen Wachstum. Wie bei allen Krankheiten, so steckt auch in der Erkrankung des Wirtschaftssystems die Chance, wieder mehr Kontakt zu sich selbst und der Essenz der eigenen Existenz zu bekommen.
Ombrage schreibt am 03.02.2009 um 09:16 Uhr:
Sehr schön geschrieben und eigentlich agree. Aber ehrlich gesagt etwas unfair. Denn leider bedingt das Empfinden der Krise die Krise und die daraus resultierende Krise bedingt das Empfinden. Geboren in den 60ern weiß ich um meine Mitschuld. Letztlich sind diejenigen, die heute jammern, die Produkte unseres Strebens und Handelns.
Anais schreibt am 03.02.2009 um 11:24 Uhr:
Als Kind der Sechziger kann ich mich auch noch an Eisblumen an den Fenstern erinnern, an den Geruch des Ölofens und an so manche Lungenentzündung. Samstag war Badetag. Für die ganze Familie. Kinder zuletzt.
Nein, es gibt Dinge, die muss ich nicht mehr haben. Ganz entschieden.
Lyriost schreibt am 03.02.2009 um 11:31 Uhr:
Ja, Anais, ich auch nicht. Auch das Kohlenschleppen in den fünften Stock vermisse ich nicht. Aber diese Erfahrungen sind eine gute Folie, um die Realität und meine Ansprüche an sie richtig einzuschätzen und übergroße Erwartungen, zu denen wir alle neigen, zu bremsen. 😉
Anais schreibt am 03.02.2009 um 11:54 Uhr:
Bei mir war es die Ölkanne. 🙂
Stimmt Lyriost. So gesehen haben wir Wurzeln, die unseren Kindern heute fehlen. Und nicht nur denen. Ich unterhielt mich gestern mit einem nur wenig jüngeren Freund, der es nicht fassen konnte, wie ich es wagen könnte, in einer Wohnung mit Gasöfen (sogar im Schlafzimmer!) zu leben. Das sei doch offenes Feuer und gefährlich! Mir ist noch nichtmal ansatzweise ein solcher Gedanke gekommen und ich war seit langem mal wieder sprachlos. 🙂
Ombrage schreibt am 03.02.2009 um 11:54 Uhr:
Die Kohleneimer der Vergangenheit führen uns zur Zentralheizung in dessen Wärme wir letztlich neuen Zielen gedenken.
Nein, Lyriost, niemals waren wir zufrieden und niemals werden wir es sein. Früher war es nicht besser und heute ist es auch nicht besser. Es ist nur scheinbar anders und die von gestern bleiben zurück und idealisieren IHRE Zeit des Wachstums. Das war doch immer und zu allen zeiten so. Die Wehmut verklärt die Eisblumen von Zeichen der Kälte zu romantischen Kunstwerken – den mühsamen Fußweg zu einem herrlichen Spaziergang.
Quintessenz? Wir werden alt, mein Lieber! ;O)
Lyriost schreibt: Keine Wehmut, keine Romantik – nur ein ironisch geweiteter Blick.
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