Literaturezeption als reduzierte Lektüre

Jeder, der einen literarischen Text liest, hat seine eigene Herangehensweise, seine ganz persönliche Lesart. Teilt er Ergebnisse seiner Lesart anderen mit, neigen diese häufig dazu, diese Lesart eines anderen als reduziert und damit minderwertig zu betrachten, weil sie beim andern das Eigene, Widerspiegelungen der eigenen Lesart vermissen. Es ist jedoch ganz natürlich, daß der andere der andere ist. Wenn ich die Gefühle, Erfahrungen und Erkenntnisse anderer nicht teile, dann bin ich ich, aber keineswegs reduziert. Von Reduktion zu sprechen setzt voraus, daß man das Ganze kennt. Aber wer kennt schon das Ganze eines Textes, die dazugehörigen Subtexte, den Prätext aus biographischen Details des Autors, des jeweiligen Lesers und nicht zuletzt die intertextuellen Voraussetzungen? Jeder kennt nur seine Version davon. Daß jemand nun seine eigene Version des Ganzen mit dem Ganzen als solchen verwechselt, verstehe ich, denn die meisten machen das so. So werden sie selbst (in ihrer Vorstellung) zu ganzen Persönlichkeiten, und die anderen werden (ebenfalls in der Vorstellung) degradiert. Diese Mischung aus Aufblasen des Eigenen und Destruieren des andern steckt meist dahinter, wenn einer sagt, ein anderer habe eine reduzierte Lesart. So simpel arbeitet das Ego.

Gähnen

Wenn wir einem offensichtlich Harthörigen einen etwas komplexeren Vorgang erklären – und dazu etwas weiter ausholen, als er es gewohnt ist –, und er beginnt zu gähnen, dann liegt das nicht notwendigerweise daran, daß ihn unsere Ausführungen langweilen. Auch ist sein Verhalten nicht unbedingt als Affront gemeint. Oft ist es vielmehr so, daß unser Gesprächspartner noch an die längst widerlegte Hypothese glaubt, sein Gähnen sei Ausdruck von Sauerstoffmangel und erhöhtem Kohlendioxidgehalt des Blutes. Da er weiß, daß Gehirne zum Denken viel Sauerstoff benötigen, reißt er ein ums andere Mal den Mund auf wie ein Raubfisch sein Maul. Nimmt der Gähner doch – ganz zu Unrecht – an, er könne durch diese Übung seine Gehirnfunktionen verbessern.

Der zweite Mensch

Als der erste Mensch starb
dachte der zweite
erst mal nichts
dann vermißte er
Hilfe bei der Jagd.
Erst dann fragte er sich:
Was ist denn mit dem
der sieht ja so anders aus
und hüpft nicht mehr.
Obwohl ich ihn anstoße
bewegt er sich nicht.
Komische Sache

Dann ging der zweite weg
und sagte zu sich selbst:
Schön blöd der
das kann mir
nicht passieren.

Und das denkt er heute noch
ein wenig.

Koryphäen und Koniferen

Es ist eine unbedachte Verächtlichkeit gegenüber den Koniferen, Koryphäen als Koniferen zu bezeichnen. Während Koryphäen, vor allem selbsternannte, sich häufig durch Zwergwüchsigkeit auszeichnen, aber nur selten über einen Meter siebzig groß werden, gehören Koniferen zu den schnellwachsenden Arten, und einige ihrer Exemplare, wie etwa der Küstenmammutbaum, werden über hundert Meter hoch. Manche Koniferen, etwa Kiefern, halten schon mal ein paar tausend Jahre durch. So gesehen, sind die Koniferen die wahren Koryphäen. Deshalb ist es statthaft, abweichend vom üblichen Sprachgebrauch, die Konifere als Koryphäe zu bezeichnen. Wenn wir nun »unsere Koryphäen« anschauen, sollte daher, bevor wir ihnen den Ehrennamen »Konifere« verleihen, unser Augenmerk darauf liegen, ob sie nadeln.

Im Mund herum

Wenn wir beim Reden fürchten, jemand könne uns das Wort im Mund herumdrehen, sollten wir unsere Beißerchen besser schön zusammenhalten. Das allerdings könnte Schlimmeres zur Folge haben: etwa Bruxismus oder Magengeschwüre.

Perspektivwechsel

Wenn ich den Blick vom Mikroskop abwende und einer zeitweiligen misanthropischen Neigung nachgebe, stellt sich mir die Menschheitsgeschichte dar als eine Krise der Evolution, und wenn ich mein Fernglas zur Hand nehme, sehe ich Bilder, die vermuten lassen, daß die ganze Geschichte, und nicht nur die des Organischen, sondern alles Kommen und Gehen, nichts weiter ist als eine Krise des Seins. Krise ist der Normalfall der Existenz.

Krise

Aufgewachsen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Winter noch Winter waren, was man daran sah, daß morgens, wenn man sich aus dem warmen Bett quälte, der Blick nach draußen nicht möglich war, weil an den Fenstern die Eisblumen grinsten, bin ich doch etwas amüsiert ob des weinerlichen Krisengeredes, das durch unser Land wabert wie die Alkoholschwaden an den Stammtischen.

Damals wusch man sich morgens kalt, denn es kam nicht einfach warmes Wasser aus der Wand, wie das heute hierzulande fast überall ganz normal ist. Man freute sich über eine duftende Apfelsine und streckte sich am Wochenende, wenn der Badeofen angeworfen wurde – so komfortabel hatte es doch schon mancher, aber durchaus nicht alle –, wohlig in der Wanne. Wie war das Leben schön.

Den Begriff Unterhaltungselektronik gab es noch nicht, denn es war eher Arbeit angesagt als Unterhaltung, und so wuchs ich erst mal ganz ohne Fernseher auf, und wir fuhren nicht mit dem Auto zur Schule oder zur Arbeit, sondern mit der Bahn. Oder wir gingen zu Fuß. Ja, man lief damals noch selbst.

Wie das heute ist, möchte ich hier nicht ausführen, das weiß jeder selbst. Viele haben sich so weit entfernt vom Leben, daß sie den Kontakt zu ihrer tatsächlichen Existenz weitgehend verloren haben und nur noch im Warmen auf den Sofas sitzen und über mögliche Einschnitte in ihren Lebensstandard lamentieren, was nicht bedeutet frieren und hungern, sondern vielleicht nicht so viele Städtereisen und nicht alle drei Jahre das neueste Modell von BMW. Und der Single fragt sich, ob er die 100-Quadratmeter-Wohnung auch in der Krise noch wird halten können.

Wenn die angekündigte Wirtschaftskrise einen Sinn haben soll, jenseits aller Ökonomie, dann den, die Spirale zum Übersatten zu kappen und viele Menschen dazu zu bringen, mal darüber nachzudenken, ob Wohlstand tatsächlich deckungsgleich ist mit materiellem Schnickschnack. Jede Krise, selbst eine zur Krise hochgeredete Pause des Wirtschaftswachstums, bietet eine Chance zum persönlichen Wachstum. Wie bei allen Krankheiten, so steckt auch in der Erkrankung des Wirtschaftssystems die Chance, wieder mehr Kontakt zu sich selbst und der Essenz der eigenen Existenz zu bekommen.

Emergent art

Seitdem sich in der Kunst der Begriff emergent art etabliert hat, hat der Sinn von Avantgarde seine Bedeutung weitgehend verloren, denn es geht nicht mehr um inhaltliche Novität, sondern nur noch um geldwertes Neuigkeitsstreben. Vielleicht war das bei so mancher »Avantgarde« früher nicht anders, nur wurde es nicht so deutlich hinter den ehrlich verschämten Blicken der jungen Künstler. Heutzutage ist die Scham ebenso wie Bescheidenheit antrainiert und augenzwinkernde Pose. Und Einfachheit nichts als sinnleerer Kult. Die Schatten Andy Warhols sind lang. Aber die bunten Blasen Takashi Murakamis, die in diesen Schatten aufblühen, werden in absehbarer Zeit in der Folge der Finanzspekulationsblasen platzen. 

Holocaustleugnung

Irgendein durchgeknallter Bischof relativiert den Holocaust dahingehend, alles sei gar nicht so schlimm gewesen, andere meinen gar, er hätte nicht stattgefunden. Der Papst hat diesen Bischof, der (aus anderen Gründen) aus der Kirche ausgeschlossen war, wieder aufgenommen, obwohl jener solchen Unsinn erzählt (wie auch allerlei andere kapriziöse Kuriositäten hervorbringt). Und schon läuft die Debatte über den Holocaust wieder auf Hochtouren. Holocaustleugnung hat Konjunktur.

Deshalb habe ich mich gefragt, wozu es gut sein soll, daß jemand den Holocaust leugnet oder – meinetwegen – auch nur relativiert. Was ist die Motivation derer, die das tun? Haben sie selber oder Angehörige Dreck am Stecken, verstehe ich das. Auch wenn sie in irgendeiner nationalistischen Traumheldenwelt leben, kann man das nachvollziehen, denn wer möchte schon aus seinen so schöngeträumten Gefilden weggehen? Bei dem Bischof – der übrigens auch bemerkenswerte Träume hat: von frauenfreien Universitäten zum Beispiel, und der Meinung ist, der Vatikan sei unter satanischer Kontrolle, kann ich nur vermuten, was ihn treibt, ich kenne ihn ja nicht persönlich, wiewohl ich das nicht bedaure. Wissenschaftliches Genauigkeitsbedürfnis aber ist, da bin ich sicher, eher weniger der Grund für die krausen bischöflichen Thesen. Im Vertrauen gefragt, und wenn er ein paar Gläser Wein zuviel getrunken hätte, würde der Bischof vielleicht sagen, er habe schon immer was gegen die Juden gehabt, wie auch die römisch-katholische Kirche zu früheren Zeiten, als sie noch Judenhüte mit gelben Spitzen verteilte. Und er sei eben ein Traditionalist.

Wenn man aber nun keines dieser Bedürfnisse hat, weshalb sollte man dann den Holocaust leugnen oder relativieren, habe ich mich gefragt. Und die Antwort: um Ideologie, die zur Menschenverbrennung geführt hat, in ihrem Kern zu retten, indem man sie von Vorwürfen befreit. Und warum versucht man das? Weil man diese Ideologie oder wesentliche Teile von ihr wieder salonfähig machen möchte.

Der Holocaustleugner ist kein rückwärtsgewandter, er ist ein vorwärtsgewandter Akteur. Er ist dabei, das Gelände vorzubereiten, auf dem das Fundament des nächsten Holocaust gebaut werden soll. Und sollte das gelingen, dann werden irgendwann wieder die Schornsteine rauchen. Ob diejenigen, die solches befördern, das wollen oder nicht. Es ist die Konsequenz, die dieser Ideologie innewohnt.

Großzügigkeit beim Teilen

Viele Menschen sind bereit, dein letztes Hemd mit dir zu teilen und sehen meist großzügig darüber hinweg, daß es nicht aus Seide und schon gar nicht von Lagerfeld ist. Und das tun sie sogar dann, wenn sie selbst noch eines haben.

Katz und Maus oder Über das richtige Denken

Die Maus ist religiös und der Meinung, es wäre wünschenswert, daß alle Tiere von Käse und Körnern lebten. Deshalb propagiert sie eine Theorie, die besagt, fortschrittliches Denken sei ein Denken, das die Welt als Entwicklungsmodell zum immer Besseren und Gerechteren betrachte.

Die Maus spricht, wenn die Katze nicht da ist, vom Telos der Tiere, das zwangsläufig zu einem Ethos der Verständigung und des Friedens untereinander führe, und der Weltgeist, der die Geschichte alles Lebenden sinnvoll lenke, habe vorgesehen, daß in nicht allzu ferner Zukunft alle bestens miteinander auskommen werden und in noch fernerer Zukunft nicht nur das Haus, in dem die Maus wohnt, sondern das ganze Weltall, also auch die Nachbarhäuser, zum Vorteil der Tiere, besonders der Mäuse, von dieser Erkenntnis durchdrungen sein werde.

Dummerweise sei die Katze sehr unzugänglich und denkfaul, ja, eigentlich nicht tatsächlich denkfähig oder zumindest mit fehlerhaften Gedankenkonglomeraten kontaminiert, was dazu führe, daß sie sich nicht weiterentwickle, sondern nichts Besseres zu tun habe, als sich dauernd in der Nähe des Mauselochs herumzutreiben und drohende Blicke auf den Eingang zu werfen. Wo doch jeder weiß, wenn er denn richtig zu denken imstande ist, daß jede Art von Aggression etwas ist, das die Tierwelt überwinden muß, wenn sie in eine glorreiche Zukunft marschieren möchte – in ein Land, wo Milch und Honig fließen.

Und da Katzen Milch doch gerne mögen, auch wenn sie sie nicht sonderlich vertragen, was sie aber nicht wissen (ja, auch das nicht), verhalten sie sich dumm, wenn sie weiter auf Mäuse lauern. Ach, wenn die Katzen nur richtig denken könnten.

ZEITonline

»American Beauty«

Es ist schön, wenn Lehrer sich um die Zukunft unserer Jugend sorgen, selbst dann noch, wenn diese Lehrer bereits aus dem Schuldienst ausgeschieden sind. Wie man hört, findet ein Lehrer in Nordrhein-Westfalen „American Beauty“ zu freizügig für Abiturienten. Ob er als Alternative einen prachtvollen, patriotischen Kriegsfilm vorgeschlagen hat, ist nicht überliefert.

Dummwort Unwort

Ich schlage vor, das Dummwort »Unwort« zu ächten und in Zukunft das, was es bezeichnet, angemessen zu benennen. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, daß Dummwörter nichts dafür können, wenn sie von Dummköpfen benutzt werden. Es wäre schön, wenn man sich den Wörtern gegenüber fair verhielte und sich auf die Wahl zum »Dummkopf des Jahres« beschränkte.

Die Apostrophs oder die Apostroph’s?

Immer ist es erhebend, im »Zwiebelfisch«, dem Zentralorgan des Sprachpolizisten Bastian Sick, zu lesen. Manchmal aber ist es auch überaus lustig. Zum Beispiel, wenn er sich über die Unsitte von Deppenapostrophen mokiert und deren neueste Variante, den Plural-Apostroph, amüsiert betrachtet und dessen Aufkommen unverständlich findet, weil doch, wie er schreibt, die »Tendenz der Standardsprache« in eine andere Richtung gehe. So heißt es bei Sick: »Nicht immer mehr, sondern immer weniger Apostrophs empfiehlt die neue amtliche Regelung.« Apostrophs.

Nebenbei: Die »neue amtliche Regelung« und die »Tendenz der Standardsprache« sind grundsätzlich zweierlei. In einem jedoch sind sich Tendenz und Amt einig: Der Plural von Apostroph ist Apostrophe – und nicht, wie der Herr Obersprachwart schreibt, Apostrophs. Mit oder ohne Apostroph, das ist hier nicht die Frage.

Eine Kuh mit zwei Eutern wird nicht dadurch zum Ochsen, daß man ihr eines davon wegoperiert. Aber man macht sich selbst zum Ochsen, wenn man es versucht.

Zwiebelfisch

Hineininterpretieren

Gerade habe ich zum wiederholten Male gelesen, in Texte könne man vieles hineininterpretieren. Oder auch »hineindeuten«, also, so bezeichnet es das Duden-Wörterbuch: »etw. aufgrund eigener Deutung oder Vermutung in etwas zu erkennen glauben, was in Wirklichkeit nicht darin enthalten ist«.

Die Definition leuchtet mir durchaus ein. Was mir jedoch nicht einleuchtet, ist das dazugehörige zusammengesetzte Stichwort „hineininterpretieren“.

Anders als „hineininterpretieren“ heißt „interpretieren“ erklären, erläutern, deuten, aus einem Text also etwas von dem herausholen, was darin ist. Also herausinterpretieren. Und hinein…? Hineininterpretieren, hineinlesen, hineinprojizieren ist nichts als ein Mißverständnis, denn ein bestimmter Text ist ein bestimmter Text und bleibt genau so, wie er ist. Wir können einen Text lediglich, so wie ich es hier mit dieser Duden-Definition getan habe, für uns selbst in unserem Kopf ergänzend uminterpretieren und dieses anderen mitteilen, indem wir einen Text zum Text verfassen, der diesen ergänzt.

Der ursprüngliche Text bleibt davon unberührt. Niemand kann etwas in einen vorliegenden Text hineininterpretieren. Nicht einmal der Autor selbst.

Zwischen zwischen

Stehend auf dem Stuhl
sage ich zwischen
zwischen den Wänden
gerieben geboren
zwischen Geburt und
Wiedergeburt
klingt doch besser
als Tod wenn auch
Klaustrophobie
im Geburtskanal
nicht die Stille
der schwarzen Steine
wo die Uhren nicht ticken
nur die leise Reibe
der Erosion
Sekundenjahrgeräusche
das Knabbern
kosmischer Mäuse
und es rauscht nur
das Nichts
nicht das
Blut