Wenn wir uns allzusehr mit unseren Meinungen identifizieren, laufen wir Gefahr, sie für Wissen zu halten. Dieses Scheinwissen lähmt uns und nimmt dem Prozeß der Meinungsbildung alle Dynamik. Wir prüfen nur noch, ob unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen unser Wissen bestätigen, und nicht mehr, ob unser Wissen mit den neuen Erfahrungen übereinstimmt. Im ungünstigsten Fall wissen wir über das Bescheid, was geschieht, ohne unsere äußere Wahrnehmung ins Bewußtsein zu heben, ja wir können es nicht, weil uns unser Bewußtsein signalisiert, Neuaufnahmen seien nicht nötig, da alles, was an die Tür klopft, bereits bekannt und bewertet sei. Keineswegs wegen Überfüllung geschlossen, sondern geschlossene Gesellschaft.
Tag: 29. April 2019
Schein und Sein
Die einen scheinen mehr zu scheinen, als zu sein, die andern mehr zu sein, als zu scheinen. So scheint das Sein wie das Scheinen im Schein. Alles Sein, alles Schein.
Täuschungsmanöver
Menschen neigen dazu, die Ungenauigkeiten der andern als Fehler und die eigenen Fehler als Ungenauigkeiten zu bezeichnen. So hyperbeln sich die meisten euphemistisch durchs Leben. Und wenn ihnen ihre Bäume dabei zu Büschen werden, beschwören sie den hohen Wert ihrer Erdverbundenheit.
Tirade 132 – Alter ego
Das lyrische Ich
wie verwurzelte Träume
im Herzen der Stich
wie das Summen der Bäume
im blinden Spiegel der Strich
Tirade 131 – Skulpturen
Steine erlauschen
den Atem der Gezeiten
lautloses Klingen
die schwingende Semantik
der gefrorenen Schreie
Narrative Gedichtinterpretation
Narrative Interpretationsstrategien wie die meine, angewendet auf Alfred Wolfensteins Gedicht »Städter« aus dem Jahr 1914, sind zwangsläufig hochspekulativ und literaturwissenschaftlich in beträchtlichem Maße fragwürdig. Und dennoch sind sie vielleicht näher am Text und wahrhaftiger als so manche akademische Trottelei, die sich in Silbenzählerei und metrischer Scheinanalyse ergeht, vollgestopft mit tropischen Reziprokprojektionen, die nichts sichtbar machen als die scheinbare Gelehrsamkeit des Interpreten und dessen Verinnerlichung der gültigen literarhistorischen Epochenschablonen.
Mutmaßungen über Alfred und ein Gedicht
Vom Belle-Alliance-Platz fuhr Alfred mit der Groschenbahn, vorbei an der Kürassierkaserne, an der verwaisten Markthalle, wo Arbeiter den letzten Schmutz des Tages zusammenkehrten. Auf der anderen Seite thronte gravitätisch das Kammergericht, und er dachte kurz an sein staubtrockenes Jus-Studium. Dann aber durchfuhr ihn wieder der bohrende Liebesschmerz. Diesmal hatte ihn Konrad brüsk zurückgewiesen, so als wäre Alfreds zaghaft tastende Hand eine lepröse Klaue. Und dann hatte Konrad ihm einen Vortrag gehalten über wahre Freundschaft, die nur mit wahren Freunden gelebt werden könne und nicht mit Fehlgeleiteten wie Alfred, und Alfred war geflüchtet, als wären tausend Teufel hinter ihm her. Ja, weggelaufen war er, geflohen vor … Ja, vor was? Sich der Einsicht zu verschließen, daß Männer seine Sinne mehr affizierten als alle noch so attraktive Weiblichkeit, ja ihn erotisch echauffierten, hatte er längst aufgegeben, und Konrad, das hatte Alfred gespürt, es gesehen, gerochen, mit allen Sinnen aufgesaugt, Konrad ging es ebenso wie ihm selbst. Aber Konrad hatte gelacht und gewütet, getobt und hämisch gegrinst und … Konrad war noch nicht so weit, er wollte sich noch ein Weilchen selbst betrügen. Wie so viele.
Alfred sackte in sich zusammen und blickte auf die endlosen Fensterreihen, die an ihm vorbeizogen, dieses graue Gewürge, dieses blutleere Steinfeuerwerk, das alles Leben garottengleich langsam, ganz langsam strangulierte, erstickte und schlußendlich fossilierte. Nichts würde bleiben als Sedimente vergeblicher Träume.
Die Tram hielt und spuckte alle aus. Nur Alfred blieb sitzen, leidend und voller Zorn und innerlich geschüttelt von einem gnomigen Mischwesen aus Selbsthaß und Larmoyanz. Im letzten Moment, die Straßenbahn hatte bereits angeruckt, kamen sie hereingeflogen und schwebten wie schwarze Engel auf die Sitze, die beiden, deren Blicke sich ineinanderbohrten wie Schrauben in Holzbretter. Sie verzehrten einander mit einer Glut, die Alfred frösteln machte. Der junge Mann, die junge Frau, sie sprachen nicht, sie nahmen nichts um sich herum wahr, sie kopulierten geradezu mit orgiastisch geröteten Augen. Und Alfred wurde klein und alt und grau wie das Straßenpflaster. Und alles war so dicht, so dicht an seiner Kehle und er so fern, so fern von allem, was lebte und glühte.
Als er nach Jahren, wie ihm schien, endlich sein Zimmer betrat, brach Übelkeit sich Bahn, und er erleichterte sich in den Nachttopf. Er weinte, schluchzte, sprach stakkatoartig mit sich selbst und erlebte das Echo seiner Verzweiflung wie den Widerhall von Rufen in einer Tropfsteinhöhle. Erst nach langen Kämpfen mit Decken und Laken schlief er erschöpft ein.
In der Nacht weckten ihn Geräusche. Ein Kind schrie, er hörte flüsternde Stimmen, die sich zu polterndem Geschrei aufbliesen und dann wieder beruhigten, bevor sie ebenso schnell verstummten wie zuvor das Kind. Alfred machte Licht, setzte sich an den Tisch und schrieb:
Städter
Nah wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
ineinander, ohne Scheu befragt.
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken .. wird Gegröle ..
– Und wie still in dick verschloßner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.