Geschlossene Gesellschaft

Wenn wir uns allzusehr mit unseren Meinungen identifizieren, laufen wir Gefahr, sie für Wissen zu halten. Dieses Scheinwissen lähmt uns und nimmt dem Prozeß der Meinungsbildung alle Dynamik. Wir prüfen nur noch, ob unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen unser Wissen bestätigen, und nicht mehr, ob unser Wissen mit den neuen Erfahrungen übereinstimmt. Im ungünstigsten Fall wissen wir über das Bescheid, was geschieht, ohne unsere äußere Wahrnehmung ins Bewußtsein zu heben, ja wir können es nicht, weil uns unser Bewußtsein signalisiert, Neuaufnahmen seien nicht nötig, da alles, was an die Tür klopft, bereits bekannt und bewertet sei. Keineswegs wegen Überfüllung geschlossen, sondern geschlossene Gesellschaft.

Täuschungsmanöver

Menschen neigen dazu, die Ungenauigkeiten der andern als Fehler und die eigenen Fehler als Ungenauigkeiten zu bezeichnen. So hyperbeln sich die meisten euphemistisch durchs Leben. Und wenn ihnen ihre Bäume dabei zu Büschen werden, beschwören sie den hohen Wert ihrer Erdverbundenheit. 

Narrative Gedichtinterpretation

Narrative Interpretationsstrategien wie die meine, angewendet auf Alfred Wolfensteins Gedicht »Städter« aus dem Jahr 1914, sind zwangsläufig hochspekulativ und literaturwissenschaftlich in beträchtlichem Maße fragwürdig. Und dennoch sind sie vielleicht näher am Text und wahrhaftiger als so manche akademische Trottelei, die sich in Silbenzählerei und metrischer Scheinanalyse ergeht, vollgestopft mit tropischen Reziprokprojektionen, die nichts sichtbar machen als die scheinbare Gelehrsamkeit des Interpreten und dessen Verinnerlichung der gültigen literarhistorischen Epochenschablonen.

Mutmaßungen über Alfred und ein Gedicht

Vom Belle-Alliance-Platz fuhr Alfred mit der Groschenbahn, vorbei an der Kürassierkaserne, an der verwaisten Markthalle, wo Arbeiter den letzten Schmutz des Tages zusammenkehrten. Auf der anderen Seite thronte gravitätisch das Kammergericht, und er dachte kurz an sein staubtrockenes Jus-Studium. Dann aber durchfuhr ihn wieder der bohrende Liebesschmerz. Diesmal hatte ihn Konrad brüsk zurückgewiesen, so als wäre Alfreds zaghaft tastende Hand eine lepröse Klaue. Und dann hatte Konrad ihm einen Vortrag gehalten über wahre Freundschaft, die nur mit wahren Freunden gelebt werden könne und nicht mit Fehlgeleiteten wie Alfred, und Alfred war geflüchtet, als wären tausend Teufel hinter ihm her. Ja, weggelaufen war er, geflohen vor … Ja, vor was? Sich der Einsicht zu verschließen, daß Männer seine Sinne mehr affizierten als alle noch so attraktive Weiblichkeit, ja ihn erotisch echauffierten, hatte er längst aufgegeben, und Konrad, das hatte Alfred gespürt, es gesehen, gerochen, mit allen Sinnen aufgesaugt, Konrad ging es ebenso wie ihm selbst. Aber Konrad hatte gelacht und gewütet, getobt und hämisch gegrinst und … Konrad war noch nicht so weit, er wollte sich noch ein Weilchen selbst betrügen. Wie so viele.

Alfred sackte in sich zusammen und blickte auf die endlosen Fensterreihen, die an ihm vorbeizogen, dieses graue Gewürge, dieses blutleere Steinfeuerwerk, das alles Leben garottengleich langsam, ganz langsam strangulierte, erstickte und schlußendlich fossilierte. Nichts würde bleiben als Sedimente vergeblicher Träume.

Die Tram hielt und spuckte alle aus. Nur Alfred blieb sitzen, leidend und voller Zorn und innerlich geschüttelt von einem gnomigen Mischwesen aus Selbsthaß und Larmoyanz. Im letzten Moment, die Straßenbahn hatte bereits angeruckt, kamen sie hereingeflogen und schwebten wie schwarze Engel auf die Sitze, die beiden, deren Blicke sich ineinanderbohrten wie Schrauben in Holzbretter. Sie verzehrten einander mit einer Glut, die Alfred frösteln machte. Der junge Mann, die junge Frau, sie sprachen nicht, sie nahmen nichts um sich herum wahr, sie kopulierten geradezu mit orgiastisch geröteten Augen. Und Alfred wurde klein und alt und grau wie das Straßenpflaster. Und alles war so dicht, so dicht an seiner Kehle und er so fern, so fern von allem, was lebte und glühte.

Als er nach Jahren, wie ihm schien, endlich sein Zimmer betrat, brach Übelkeit sich Bahn, und er erleichterte sich in den Nachttopf. Er weinte, schluchzte, sprach stakkatoartig mit sich selbst und erlebte das Echo seiner Verzweiflung wie den Widerhall von Rufen in einer Tropfsteinhöhle. Erst nach langen Kämpfen mit Decken und Laken schlief er erschöpft ein.

In der Nacht weckten ihn Geräusche. Ein Kind schrie, er hörte flüsternde Stimmen, die sich zu polterndem Geschrei aufbliesen und dann wieder beruhigten, bevor sie ebenso schnell verstummten wie zuvor das Kind. Alfred machte Licht, setzte sich an den Tisch und schrieb:

 
Städter

Nah wie die Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte sehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, ihre nahen Blicke baden
ineinander, ohne Scheu befragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Unser Flüstern, Denken .. wird Gegröle ..

– Und wie still in dick verschloßner Höhle
Ganz unangerührt und ungeschaut
Steht ein jeder fern und fühlt: alleine.

Duden minus

Gerade las ich:

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So weit das Bibliographische Institut, das den DUDEN herausgibt. Was soll man dazu sagen: Zwei Fehler in solch einem kurzen Text. Schwaches Bild. Die wollen mir fachliche Kompetenz verkaufen, mich und andere korrekte Grammatik und richtige Interpunktion lehren. Sollten sie sich das nicht erst mal selbst beibringen?

Ich kann vom DUDEN  immerhin lernen, wie man es nicht machen sollte.

DUDEN

PS: Inzwischen ist durch Überarbeitung der Seite noch ein Kommafehler dazugekommen. Köstlich.

duden-

Labermoderne

Was Politikern oder solchen, die sich für Politiker halten, früher schon nicht möglich war, zum Beispiel, sich in der Öffentlichkeit einigermaßen verständlich und floskelarm auszudrücken, das hat sich nicht geändert, nur heißt es heute nicht mehr, etwas sei nicht möglich. Heute sagt man, es sei »nicht darstellbar«. Sind halt keine Künstler, diese Leute.

Der gelehrte Lapsus

So wie Ironie nicht selten nur Ausdruck mangelnden Mutes ist, zu sagen, was man denkt, so ist manches kunstvolle Oxymoron oft nichts weiter als stilistische Veredelung krauser Gedanken: ein kognitiver Lapsus im prächtigen literarischen Gewand. Hölzernes Eisen wird häufig von Holzköpfen produziert.

Schein-Werfer

Wenn wir einen Gegenstand genauer betrachten, um herauszufinden, ob er so ist, wie er scheint, erzeugen wir mit unseren Scheinwerfern gerade den Schein, der verhindert, den Gegenstand so zu sehen, wie er ist. 

Den andern verstehen

Hinter dem Wunsch, den andern zu verstehen, steckt häufig die Absicht, uns selbst mißzuverstehen und uns über unsere Tendenz zur Selbststilisierung hinwegzutäuschen. In Wirklichkeit suchen wir im andern nicht den andern, sondern uns selbst. 

Wer sich selbst nicht ohne Selbsttäuschung zu verstehen versucht, versucht auch nicht, den andern zu verstehen.

Aletheiische Dialektik

Lebend im Zeitalter destruierter Wahrheiten, müssen wir lernen, Lügen aufzudecken, ohne die Wahrheit zu sagen. Selbst dann, wenn wir glauben, sie zu kennen. Wenn wir Aletheia suspendiert haben, ist unser Dispens gleichbedeutend mit ihrem.

Die Tücken der Agonalität

Man sollte meinen, jede gelungene Selbstreflexion decke den verborgenen agonalen Charakter des eigenen kulturellen Denkens und Handelns auf und wäre das Einfallstor für intellektuelle Gelassenheit und eine bescheidenere Sicht. Da jedoch das Agonale archetypisch tief im Menschen verwurzelt ist, wird der Reflektierende alsbald versuchen, jeden andern in der Tiefe der Reflexion über das Phänomen der Agonalität zu übertreffen. Die eigenen Erleuchtungen sollen heller strahlen als die der andern, und wenn wir uns mit anderen Reflektierenden auf der dritten Stufe der Metaebenen befinden, halten wir doch heimlich Ausschau nach einer vierten, um die andern zu übertreffen: das Agens (sic!) jeder kulturellen und intellektuellen Entwicklung.

Vielleicht ist das auch der wahre Sinn von Goethes letzten Worten: »Mehr Licht!«

Justizirrtum?

Wirklich merkwürdig, im größten Teil der Presse, in Rundfunk und Fernsehen hören wir regelmäßig, wie auch jetzt wieder bei Daimler, von möglicher »Schummelei« oder »Unregelmäßigkeiten« großer Autokonzerne, wenn es um Abschalteinrichtungen bei Dieselfahrzeugen geht.

Irgendwann kommt es dann jedoch ebenso regelmäßig zu Ermittlungen der Justiz wegen »schweren Betrugs« bzw. Betrugs in einem besonders schweren Fall wie jetzt bei Herrn Winterkorn von VW. Lesen die Staatsanwälte keine Zeitungen, oder … oder was ist der Grund für diese sprachliche Diskrepanz? Oder sind vielleicht die Redakteure … 

Finde den Fehler.

Ontologische Ironie

Das Paradoxe am Leben ist, daß es im Menschen die Voraussetzung schafft, den Gedanken an eine Freiheit des Seins zu entwickeln, die dem Leben nicht innewohnt, ja, die es beständig durch ironische Kommentare des eigenen Körpers und die Lebensäußerungen der anderen ins Lächerliche zieht.

»Schwarze Milch der Frühe«

Die angeblich paradoxe »schwarze Milch der Frühe« in Celans »Todesfuge«, über die so viel gestritten wurde in der Literaturwissenschaft, verliert sehr leicht einen Großteil ihres oxymorotischen Charakters, wenn man bedenkt, daß Hippokrates empfahl, bei schweren Krankheiten die Milch schwarzer Kühe zu trinken.

Der Bruder Leidenschaft

In einem Buch über die Farben von Klausbernd Vollmar las ich, geistige und physische Leidenschaften seien »zwar feindliche, aber doch eng verbundene Brüder«. Brüder. Der Autor ist, wie man vermuten darf, kein passionierter Sprachliebhaber.