Asketen sind Menschen, die dafür belohnt werden wollen, daß sie sich selbst für ihren Mangel an Moralität bestrafen. Als wäre Asketentum mehr als eine rigide Form der Sublimierung von adulten inneren Greifreflexen, die sich nicht wie der frühkindliche von selbst verlieren.
Tag: 11. Februar 2019
Beratung
Fluchtwesen
Menschen sind Fluchtwesen. Die weniger Phantasievollen fliehen vor der Realität, die sie als bedrückend empfinden, in virtuelle Träume und Phantasien, die Phantasievolleren hingegen suchen ihr Heil in der Realität, um sich selbst vor ihren verborgenen Träumen und Phantasien zu beschützen, denen sie ausgeliefert sind – und die sie als nicht realisierbar oder nicht realisierenswert betrachten –, und zu verhindern, daß diese Gestalt annehmen. Die sogenannte Realität ist eine kollektive Phantasmagorie von Individualphantasien.
Blitzgedanken
Gelungene Aphorismen sind die elegantesten und charmantesten Formen der nichtsyllogistischen Beweiserschleichung. Sie sind schillernde Hypothesen im Dunkel unbekannter Voraussetzungen. Solche Aphorismen sparen sich die Mühe, zu Ihren Konklusionen fragwürdige Prämissen zu konstruieren.
Anders gleich
Jeder ist anders gleich.
Neurotiker
Wenn ein Neurotiker in den Spiegel schaut und einen Neurotiker erblickt, denkt er erst mal, er hätte sich verguckt. Aber nachdem er ohne durchschlagenden Erfolg Spiegel und Brille geputzt hat, erkennt er zerknirscht seine eigene Behandlungsbedürftigkeit, geht zum Augenarzt und läßt sich eine neue Brille verschreiben.
Nützlichkeit
Wer alles mit der Meßlatte Nützlichkeit mißt, sollte sich nicht zuletzt auch fragen, welchen Nutzen seine Latte hat.
Nichts ist so rot
Formlos weiß die Felder
das Wimmern der Weiten
im Honigschlaf
die braunen Wälder
im Traum das Summen
verklebter Gezeiten
Auf den Wegen die Spuren
die Chiffren des Lebens
der blinden Auguren
kein Klagen kein Weh
nichts ist so rot
wie Blut im Schnee
Endlich November
Geheimnisse
Jeder hat stille und weniger stille Geheimnisse. Mehr oder weniger geheim. Mehr oder weniger geheimnisvoll. Die geheimnisvollsten Geheimnisse aber sind die, die wir vor uns selber haben.
Tirade 123 – Verwehte Wolken
Heute morgen einst
die Zeit kennt keine Gnade
verwehte Wolken
Herzkranzscherbengesplitter
und Pulsschlag wie Donnerhall
Homo felidae lupus
Die reichsten zehn Prozent in unserem Land besitzen fast zwei Drittel der Vermögen. Das ist anstößig genug, doch leider nichts Neues. Aber viel unerträglicher als dieses Ungleichgewicht ist die Tatsache, daß sich die restlichen neunzig Prozent nicht in erster Linie untereinander um den zwei Drittel kleineren Kuchen streiten müssen, sondern daß die reichen zehn Prozent mit allen Mitteln versuchen, möglichst große Stücke vom Katzentischkuchen an sich zu reißen, indem sie den dort Sitzenden einreden, diese müßten Opfer bringen, weil die Logik der Globalisierung nun einmal Opfer von allen verlange.
Im Angesicht
Tirade 122 – Ohne Augen
Kein Blickezählen
Perspektiven verschieben
Multiplikation
Wahrheit ist nur im Dunkel
ohne Augen zu sehen
Haarschnitte
Schlimm sind nicht unterdurchschnittliche Haarschnitte auf durchschnittlichen Köpfen, wie sie Ulf Poschardt beim Herrn Beck ausmacht. Schlimm sind durchschnittliche Haarschnitte auf durchschnittlichen Köpfen, was Ulf Poschardt selbstdiagnostisch bemerken könnte, wenn er nicht stets so in Eile wäre, daß er seinem Spiegelbild habituell voraushastete. Doch was will man von einem „bekennenden Single“ erwarten, der sich über seine Einsamkeit wundert?
Angeln
Der frühe Angler wird von einer Frau gefangen, der späte von einer Melusine. Auf die Übriggebliebenen lauern zu jeder Zeit vollschlanke Karpfen.
Atemruhe
Im Sinnennetz
Gesänge und Trommeln
und Regen
auf Taubenflügeln
und Hautgeschmack
des Feuers
der wartenden
Jahre
Entartet
Es waren schon immer die geistig Verirrten und Verwirrten jeder Couleur, die einseitig Generierten, die die freien Lebensäußerungen, und nicht nur die künstlerischen, Andersartiger als degeneriert und entartet diffamiert und – wenn sie die Macht dazu hatten – mit heiliggesprochenem Feuer und Schwert unterdrückt haben. Von Entartung zu sprechen, das ist stets entartetes Reden, hinter dem sich der Wille zur bösen Tat und ein Prozeß menschlicher Verkümmerung verbirgt.
Cioran
Sosehr du auch nichtest
das Nichts wirft Schatten
wie scharfe Speere
du füllst nur die Leere
ein kaltes Begatten