Monat: Februar 2019
Rosen in Berlin
Tirade 233 – Auch der Stein
Jahrtausendelang
kann er sich nicht beruhigen
gänzlich unbedacht
aus dem Boden gerissen
wie das Wild aus den Wäldern
Empathie und Intelligenz
Ein geistig unbedarfter Mensch, der voller Empathie ist und mir Intelligenz vorspielen will, ist mir hundertmal lieber als ein Intellektueller, der mir weismachen will, Albert Schweitzer sei sein großes Vorbild. Am schlimmsten und gefährlichsten aber sind Intellektuelle ohne emotionale Intelligenz.
Der kleine Mann
Warum fühlt sich der kleine Mann so klein? Er betrachtet sich zu oft in den großen Spiegeln, die man ihm hinstellt.
Zumutung
Viele Menschen kann man allein dadurch verunsichern, daß man sie anlächelt, daß man ihnen ein Lächeln zumutet. Es erweckt ihren Unmut, denn sie vermuten böse Absicht dahinter. Und oftmals haben sie gar nicht unrecht mit ihrer Vermutung.
Arroganz des Wissens
Da es vielfältige Erscheinungsformen des Hochmutes gibt, mit denen jeder je nach Stellung und Einstellung mehr oder weniger konfrontiert ist – etwa die Arroganz der wirtschaftlich Mächtigen, der Herkunftshochmütigen, der politisch Einflußreichen, der Prominenten und mit körperlichen Vorzügen Gesegneten oder Gestraften, kurz: aller, die etwas besitzen, was anderen fehlt –, und diese Formen einer gesonderten Betrachtung bedürfen, die ich hier nicht leisten mag, möchte ich mich auf eine Art des Hochmutes konzentrieren, die sich von den andern hier genannten Erscheinungsformen unterscheidet: die Arroganz des erfahrungsgesättigten Wissens.
Nicht ererbt, nicht durch Beziehungen zugeschustert, sondern im tätigen Austausch mit der Außenwelt erworben, scheint es zumindest auf den ersten Blick etwas zu sein, das sich ein jeder erarbeiten kann, wenn er nur willens ist. Die Rede ist hier nicht von formaler Bildung, die nicht selten nichts anderes ist als Titelgenerierung und die bekanntlich leichter erworben wird, wenn es in der Herkunftsfamilie nicht an Geldern und akademischen Traditionen mangelt. Nein, ich meine den einzelnen Menschen, der sich bildet, indem er lernt aus den Erfahrungen, die er macht, aus den Büchern, die er liest, aus den kulturellen Angeboten, die er wahrnimmt, und aus den emotionalen und intellektuellen Interaktionen mit anderen Menschen.
Jeder, der das eine Weile wirklich intensiv betreibt, spürt, wie er innerlich bereichert wird, wie er wächst und gedeiht und sich zu einer Persönlichkeit entwickelt.Und da der Mensch dazu neigt, sich mit anderen zu vergleichen, wird unser bewußter Lerner bald bemerken, daß er ein immer deutlicheres Bild von seiner Umgebung und sich selbst bekommt. Aber wenn er ehrlich mit sich selbst ist, wird er gleichzeitig intensiv wahrnehmen, daß sein Wissen zwar immens wächst, aber dennoch niemals ausreicht, um die wesentlichen Grundlagen seiner Existenz auch nur annähernd zu erfassen.
Nach einigen Jahrzehnten, in denen er gelernt und beim Erwerb formaler Qualifikationen erfahren hat, daß es im Wissenschaftsbetrieb ähnlich zugeht wie auf Pariser Laufstegen von Haute Couture und Prêt-à-porter und auch der Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« nur mit Wasser gekocht hat, dazu mit ziemlich schmutzigem, betrachtet er die universitären und die öffentlichen Diskurse mit viel weniger ehrfurchtsvollem Blick als vordem und sieht, wenn er in den Spiegel schaut, den Anflug eines spöttischen Lächelns, den er bislang noch nicht von sich kannte. Wenn er auch ein wenig erstaunt ist über diesen neuen Zug in seinem Gesicht, sieht er doch keinen Grund, beschämt zu sein, denn von Hochmut ist er weit entfernt, auch wenn er bisweilen ein wenig belustigt ist über die Ernsthaftigkeit, mit der um die Relevanz von Fußnoten gestritten wird.
Gerät unser erfahrener Lerner, nennen wir ihn N., etwa in eine Diskussion, bei der von Platons »Höhlengleichnis« die Rede ist, bei dem jemand ins Licht des Vollmondes gezerrt wird, wird N., wenn es sich ergibt, vielleicht beiläufig anmerken, es handle sich nicht um den Mond, sondern die Sonne, und der gewaltsame Vorgang sei nicht so ohne weiteres mit plötzlicher Befreiung gleichzusetzen.
Wenn auch die offensichtlich nicht übermäßig gutinformierten Diskutanten nach einigem störrischen Zögern einräumen, es könne sein, daß bei Platon tatsächlich die Sonne geschienen habe, so erklären sie vehement, man wolle bezüglich der gewaltsamen Befreiung keinerlei Abstriche machen. Warum nicht, das sagen sie jedoch nicht und wenden sich dem Türhütergleichnis im »Prozeß«, der Tagespolitik oder ihrem Bierchen zu. Oder jemandem, der bescheiden und interessiert erklärt, noch nie etwas vom »Höhlengleichnis« gehört zu haben, und über dessen Unwissenheit sie sich wunderbar amüsieren können.
Unser N. geht seiner Wege, aber er wird, wenn er das nächste Mal mit solchen Blendern zu tun hat, ein wenig mehr sagen als nur Beiläufiges, vor allem dann, wenn die Halbgebildeten ihre gute Laune nicht aus der Befriedigung über die eigene Denkleistung ziehen, sondern aus der Uninformiertheit anderer. Und er spürt in sich etwas wachsen, das er gleichermaßen begrüßt wie auch verabscheut: Arroganz des Wissens.
Gleichzeitig weiß er aber auch, daß er dieses Gefühl nur wirksam werden lassen wird, wenn es auf seinesgleichen trifft.
Tirade 126 – Wie Messer
Schneidende Syntax
wie Messer im Morgenbrot
sanft aber kräftig
in der Ferne der Donner
der groben Wortkanonen
Kriminalgeschichte
Das Kompositum »Kriminalgeschichte« ist ein pleonastisches Gebilde. Da die meisten jedoch mehrere Maßstäbe in der Tasche haben – einen für sich selbst und alles, was ihnen lieb ist, und einen für andere –, sieht es manchmal so aus, als sei der kriminelle Antrieb der weltgeschichtlich Gestaltenden nicht breit gestreut, sondern in bestimmten Lagern, Gruppen, Religionen, Parteien, Ländern konzentriert. Die Guten und die Bösen. Wenn es so einfach wäre …
Bilder
Lieber schlechte Bilder an der Wand als falsche im Kopf.
Superbia
Es gibt überall in den Internetforen diesen unangenehmen Menschentypus des selbstgewiß scheinenden Großwissenden, der auf einer mächtigen Palme sitzt und aus dieser höheren Warte das Weltgeschehen und seine Mitmenschen beURTEILt. Das ist legitim und unproblematisch. Solche Leute können durchaus nützlich sein bei der Meinungsbildung, denn manchmal regen ihre Bekundungen nicht nur sie selbst an, sondern zugleich die Hirntätigkeit der anderen.
Nun ist es aber leider so, daß die gleichen Großwisser, ich nenne sie mal empathiedefizitäre Intellektualanalphabeten, nichts lieber tun, als über andere, die ihrer Meinung nach mit weniger Weitblick und geringerem intellektuellem Leistungsvermögen gesegnet sind als sie, mit beißendem Spott, guten Ratschlägen und Schlimmerem herzufallen. Da ist dann schnell die Rede von Psychiater, Therapie und dergleichen. Natürlich sucht man sich besonders gern diejenigen aus, deren orthographische Kenntnisse zu wünschen übriglassen und die auffallend ungelenk beim Formulieren ihrer Botschaften sind – oder auch nur erscheinen.
Daß intellektuelle Überheblichkeit eine völkerrechtlich zu ächtende Waffe wäre, will ich allerdings nicht behaupten, ganz im Gegenteil: Sie ist ein probates Mittel, um anmaßende Dummköpfe zu maßregeln und sie auf den Teppich zu holen. Und anmaßende Dummköpfe fallen bekanntlich in Scharen wie Heuschrecken über die Foren im Internet her, was sich in letzter Zeit noch dadurch verstärkt, daß an vielen Stammtischen inzwischen das Rauchverbot durchgesetzt wird.
Wichtig für den, der mit Arroganz auf Äußerungen anderer reagiert, ist die Fähigkeit, die Diversibilität der Adressaten im Blick zu behalten und wirklich angemessen zu urteilen. Diese Fähigkeit vermisse ich bei vielen.
Mein Eindruck ist, daß so mancher, der sich und seinen Gehirnstoffwechsel für super hält, nichts Besseres zu tun hat, als sich an Kleinen zu vergreifen, und sei es auch nur jovial mit altväterlichen guten Ratschlägen. Und wenn die so Angesprochenen nicht gleich demütig das Haupt neigen, dann werden sie runtergeputzt.
Was steckt hinter diesem Phänomen des kognitiven Hochmutes? Es ist vor allem die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, die eigenen kognitiven Fähigkeiten auf sich selbst zu verwenden, viel Unsicherheit bei der Reflexion des eigenen Selbstwertgefühls und mangelnde Einsicht in die eigene charakterliche Inferiorität.
Wer die eigenen Fehler nicht erkennt, sucht sie bei andern. Irgendwo müssen sie sein.
Roy Andersson und die Avantgarde
Avantgardisten nennen sich jene, die vor den Planierraupen herlaufen, die im Dunkel der Nacht die Gegend für neue Hauptstraßen plattmachen. Meist läuft die Avantgarde dabei im Zickzack, ihre Taschenlampen hin und her schwenkend, um auf sich aufmerksam zu machen, bis die Vorhüpfer dann endlich von den Lichtkegeln der auf die Planierraupen folgenden Walzen erfaßt werden.
Nun können die Handlichter ins Gestrüpp am Wegrand geworfen werden – die Batterien sind ohnehin inzwischen so gut wie leer –, die selbsternannte Avantgarde muß aber aufpassen, daß sie nicht von den mechanisch vorrückenden Metallkolossen erfaßt und gnadenlos zu Straßenbelag gewellt wird.
Die wirklichen Avantgardisten sitzen derweil abseits der Szenerie auf kleinen Erhöhungen im Gebüsch, schauen sich das Ganze lächelnd und mit der einen oder anderen verdrückten Träne an und sprechen leise vor sich hin.
So einer ist Roy Andersson – ein ganz normaler Weiser am Rande des Geschehens.
Gedankenkomprimierung
Die größte Schwierigkeit beim Schreiben: der Stil. Der eigene Senf muß erst mal in eine ansehnliche Tube, bevor man ihn andern auf die Wurst schmieren kann.
Pulver unterm Hemd
Hier und dort gibt es Leute, die bereits mit ausgefahrenen Ellbogen auf die Welt gekommen zu sein scheinen. Wenn ich früher mit solchen Mitmenschen konfrontiert wurde, begannen meine Ellbogen zu kribbeln. Heute juckt es mich nur noch in den Fingern, und ich überlege, wo ich die Dose mit dem Juckpulver gelassen habe. So ein bißchen Pulver unterm Hemd wirkt manchmal Wunder.
Doch wozu sich bemühen? Die meisten Ellbogenboxer bepulvern sich selbst.
Wichtigtuer
Dem Wichtigtuer besonders verhaßt sind andere Wichtigtuer, und deshalb versucht er sie von der medialen Bühne zu schubsen, so wie Heinrich Broder das mit Niggemeiers Stefan tut. Am übelsten aber stößt es dem Wichtigtuer auf, wenn jemandem außer ihm selbst in der öffentlichen Wahrnehmung lorbeermäßig Gutes widerfährt. Dann greift er in die Schmocktrickkiste, die jeder Schmock, der was auf sich hält, neben dem Bleistiftanspitzer stehen hat. Das eigene Spiegelbild wird mit einem Grafikprogramm verfremdet, etwas koloriert und dann als »Schmock der Woche« verkauft. Und wie das bei älteren Leuten manchmal so ist, hat der Selbstdarsteller schon beim Abspeichern der veränderten Grafik vergessen, daß der Selbstdarsteller, den er nun süffisant schmockiert, bei genauerer Betrachtung niemand anderer ist als er selbst.
Köstlich.
PS: »Abgesehen von dem hochoriginellen Einstieg mit einem Adverb (›Einfach ist es nicht mehr …‹), der erratischen Zeichensetzung …«, so beginnt Broders Kritik. Das finde ich nun hochoriginell daneben, denn erstens ist »einfach« bekanntlich ein Adjektiv – und kein Adverb –, und zum zweiten kann keinesfalls von »erratischer Zeichensetzung« gesprochen werden, wenn einer mal ein Komma vergißt. Das ist nun wirklich Erbsenzählerei. Vor allem dann, wenn die eigene Zeichensetzung ebenso stark von der Norm abweicht wie die des Kritisierten. Daß Broder aus einem »Botschafter« einen »Botschafters« macht, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Nicht mal abschreiben kann er richtig, wenn die Hetzlust ihn gepackt hat.
Silikonbrustneid
Liest man den neuesten Artikel des Erbsenzähler-Verächters Henryk Marcin Modest Broder über Verona Feldbusch, »die nichts außer sich selbst zu vermarkten hatte« (sic!), aufmerksam, kann man zu der Auffassung kommen, daß es eine neue männliche Variante des als obsolet geltenden Freudschen Penisneides gibt, deren kompensatorische Umsetzung an dieser Stelle schleichend zum Ausdruck kommt. Ich will das mal Silikonbrustneid nennen.
Broder versucht hier mit geradezu nekrologischer Akribie, der Frau Feldbusch (jetzt Poth) die Luft aus der Brust abzulassen. Und ich frage mich mal wieder, was so viele Intellektuelle an dieser Broderschen Poltergeistlosigkeit finden.
Vulkanisches Wesen
Wenn wir mit dem Goethe der »Xenien« feststellen, daß wir alle auf Vulkanen schlafen, so bleibt uns nurnoch zu bemerken, daß wir selbst gewissermaßen die Spitze des Eisbergs sind.
FAZ Reading Room
Solange es auf derartigen Spielwiesen nicht möglich ist, ohne den Zensorstift auszukommen, halte ich nicht viel davon. Eine wirkliche Debatte kann sich nicht entwickeln, wenn ich einen Beitrag schreibe und dann lange, lange darauf warten muß, daß irgendein Volontär sich erbarmt (oder auch nicht), ihn freizugeben. Es ist so wie Fernschach per Post.
Ich empfinde den Littell-Raum als ein statisches, lebloses Gebilde. Nehmen Sie sich ein Beispiel an ZEIT online. (Anmerkung: Inzwischen hat sich das, was vor zehn Jahren üblich war, leider geändert.) Dort gibt es tatsächlich lebendigen Meinungsaustausch. Und daß dort Regelverletzern durch NACHTRÄGLICHE redaktionelle Eingriffe entgegengetreten wird, empfinde ich nicht als Zensur. Bei der FAZ ist das leider anders, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß so mancher mißliebige Kommentar der Schere zum Opfer fällt. Auch die Begrenzung auf 1000 Zeichen finde ich problematisch. Oder ist man der Meinung, den sogenannten Experten könne man bei der graphischen Repräsentation ihrer gedanklichen Welt eine Raffung nicht zumuten, dem gemeinen Fußvolk jedoch ohne weiteres?
Grundsätzlich bin ich sehr dafür, wichtige oder wichtig erscheinende Publikationen an solch einem Ort wie dem Reading Room umfassend zu diskutieren, auf ein Scheinforum, das nur dazu dient, das Leseverhalten zu steuern, kann ich allerdings gut verzichten. Expertengestützte Lesartenvorgabe mit ausgewählten Kommentaren ist eine Verhöhnung der Leser.
Daß dieser Kommentar auch nach Tagen ebensowenig akzeptiert und freigeschaltet wurde wie meine wiederholte Frage, wer der Hilter sei, den man mit Stalin vergleicht, paßt bestens ins Bild. Seit über einer Woche sieht man im Reeding Room eine große, breite Überschrift, in der von einem Herrn Hilter (statt Hitler) die Rede ist. Nun frage ich mich: Was kann ich von einer Redaktion erwarten, die noch nicht einmal in der Lage ist, den Namen des Repräsentanten eines Systems richtig zu schreiben, über das sie sich wortreich äußert? Der Name des Redakteurs, Lorenz Jäger, immerhin, scheint richtig geschrieben zu sein.
Krankheit und Symptom
Jede Ideologie, die als alleinseligmachende Repräsentantin der Wahrheit auftritt, ist eine Krankheit wie die Pest. Fanatismus ist nur die dazu passende Beule – ein Symptom dieser Krankheit.
Zufall
Zufall nennt man die Maske, die die Notwendigkeit aufsetzt, wenn sie zum Karneval geht.