In früheren Zeiten neigten die meisten Wissenschaftler dazu, mit statistischen Daten eher behutsam umzugehen und nur dann die Lügenmaschine anzuwerfen, wenn sie mit Gutachten für politische oder wirtschaftliche Interessengruppen beauftragt waren und die Bezahlung sich sehen lassen konnte. Seit eh und je spielte bei ihren Aussagen der Begriff Dunkelziffer eine herausragende Rolle. Je nach Auftraggeber und Fall war die Dunkelziffer »vermutlich sehr hoch« oder auch »wahrscheinlich eher unbedeutend«, jedenfalls in aller Regel nicht präzise anzugeben, was bei einer Dunkelziffer das ist, was jedem unmittelbar einleuchtet.
Dies hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten drastisch geändert – ob infolge der verfeinerten technischen Analyseverfahren oder deshalb, weil Kartenleger, Handleserinnen und andere Hellsichtige verstärkt die Vorteile einer wissenschaftlichen Karriere erkannt haben, das vermag ich nicht zu sagen. Schaut man heute in wissenschaftliche Publikationen, dann kann man feststellen, wie die dunklen Ziffern das Leuchten gelernt haben. Einige Beispiele:
Die Dunkelziffer beträgt 90 Prozent. Handelsblatt
Die Dunkelziffer beträgt 79 Prozent. Hessischer Landtag
Die Dunkelziffer beträgt 80 bis 90 Prozent. Uni Frankfurt am Main
Die Dunkelziffer beträgt bis zu 99 Prozent. Uni Zürich
… muß mit einer Dunkelziffer von 0,1-0,2 % gerechnet werden. Uni Essen
Häufig wird gesagt: »Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen«, auch wenn das gar nicht stimmt und man tatsächlich fast durch ist mit dem Aufzählen, man aber Eindruck schinden möchte. In Fall der Dunkelziffer ließe sich die Aufzählung tatsächlich fast beliebig fortsetzen.
Wie man sieht, ist es den Dunkelziffern mit Hilfe der Wissenschaftler gelungen, mächtig viel Licht in die dunklen Felder der Unwissenheit zu bringen, und wüßte ich nicht aus Erfahrung, daß die Dunkelziffer bei statistischen Lügen nicht exakt zu bestimmen, aber wahrscheinlich sehr hoch ist, würde ich hier dazu auffordern, den Begriff Dunkelziffer künftig nicht mehr oder nur noch zögerlich und in Ausnahmefällen zu verwenden oder durch den neuen Terminus Hellziffer zu ersetzen.
Allerdings müßten sich alle beteiligten Datenerheber und Dateninterpreten (also Hellziffernseher) regelmäßig auf Hellziffernkonferenzen zusammensetzen und sich auf verbindliche Hellziffern einigen, was vermutlich wegen interessenbedingter Zifferndifferenzen nicht möglich sein wird, wie an folgendem Beispiel deutlich wird:
In Deutschland gibt es rund sechs Millionen Diabetiker, die Dunkelziffer beträgt fünf Millionen. Ärztekammer
Wir haben in Deutschland sechs Millionen Diabetiker. Die Dunkelziffer beträgt zwei Millionen. Welt-Diabetestag
Man sieht: Die Dunkelziffer ist bei genauerer Betrachtung nach wie vor keine sonderlich erhellende Angelegenheit.