Über einfache Weltbilder

Die einfachen Weltbilder für den Durchschnittsdenker aus dem Hirnverleih des Ideologicus sind nicht witterungsbeständig, und auf die Dauer schützt kein Schirm vor dem Abblättern der Farben. Da auch das Tageslicht zum Ausbleichen führt, hilft dem Anhänglichen nur der Rückzug in einen Bunker.

Therapieresistenz

Wenn ein Patient zu einem Psychiater sagt, er solle sich mal einen Psychiater suchen, dann weiß der Psychiater, daß er mit seiner kurativen Therapie am Ende ist und bestenfalls noch palliative Maßnahmen möglich sind. In einem solchen Fall zum Patienten zu sagen: Deshalb bin ich ja bei Ihnen, wäre vielleicht eine letzte Interventionschance, aber wahrscheinlich doch eher ein Kunstfehler. Es könnte sein, daß der Patient das als Kunstgriff bemerkt und glaubt, der Psychiater hielte ihn für verrückt.

Künstliche Intelligenz

Der Glaube an die Entwicklung von tatsächlicher künstlicher Intelligenz, die etwas anderes ist als eine weitere technisch umgesetzte Verlängerung des menschlichen Körpers, ist eine Folge von natürlicher Dummheit, die davon ausgeht, Blechdosen könnten eines Tages genausogut denken wie sie selbst. 

So gesehen, hat der Glaube an die künstliche Intelligenz allerdings eine plausible Grundlage.

Trivialliteratur

Der von mir früher, wenn auch selten, benutzte Begriff Trivialliteratur, schwammig definiert, oft mißbraucht und deshalb zu Recht heftig kritisiert und mittlerweile in den Hintergrund getreten, fehlt mir manchmal, ich gestehe es, wenn ich konfrontiert werde mit Literatur minderer Qualität. Natürlich gibt es auch heute, wie man weiß, mehr Prosaschrott als Kleinodien der Literatur, und vieles Belangarme stürmt in den Verkaufslisten in Richtung der vorderen Plätze. Doch das war zu allen Zeiten so, nur sind die Bestseller von gestern längst vergessen und werden nicht wieder ausgegraben. 

Wenn doch hin und wieder eine literarische Exhumierung stattfindet, handelt es sich eher um Hochwertiges, bisher weitgehend Übersehenes.

»Bella Rosa« und die Chromosomen

Zur Story gibt es nicht viel zu sagen. Im Mittelpunkt steht eine »starke Frau«, natürlich. Dieser wird von einem charakterlich indifferenten Menschen übel mitgespielt, einem, der sanft und sensibel ist, mit künstlerischer Veranlagung, der jedoch im Verlauf der Geschichte immer mehr den starken Mann markiert, obgleich er nicht mal aus humangenetischer Sicht ein Mann ist, sondern eine Art Zwitterwesen.

Jedenfalls behauptet das die Autorin und entwirft den zerrissenen Charakter ihres Massimo, eines intriganten Unternehmers, der sich als Heranwachsender auch schon mal selbst mit einem Brotmesser zu Leibe gerückt ist. Den Grund für die polymorphe Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen, knallharter Rücksichtslosigkeit, Bösartigkeit, Großmut und Larmoyanz, die die Autorin in diesen Charakter gelegt hat, erklärt sie damit, daß er ein X0-Mensch sei:

»Anfangs hatte er gar nichts verstanden. Es war um ein X0-Chromosom gegangen, was immer das sein mochte. Mittlerweile wußte er es … X0, X0, X0, das war die Formel, die Massimo um ein Haar das Leben gekostet hätte.«

Um diese Chromosomenanomalie herum, vermutlich die Grundidee des Ganzen, hat Lea Wilde einen mit Absonderlichkeiten und mythischem Ornithologenpathoschen gespickten 400-Seiten-Roman geschrieben, voller Selbstmitleid und Stimmen, die sich in alten Gewölben brechen, dessen Geschichte mit ebendieser Anomalie des Massimo, des armen Bösen, steht und fällt. Und man sollte meinen, die Autorin hätte vorher das ein oder andere medizinische Buch oder besser noch einen Menschen vom Fach zu Rate gezogen. Hat sie aber nicht.

Hätte sie das getan, wäre ihr zu Ohren gekommen, daß die von ihr beschriebene gonosomale Genommutation, Monosomie X, wie es fachsprachlich heißt, nur bei Frauen und Mädchen auftritt. Und keinesfalls bei Männern. 

Glücklicherweise werden aber die meisten Lea-Wilde-Leserinnen bei ihrem Schulabschluß nicht Biologie im Leistungsfach belegt haben, sonst ginge sie nun den Bach runter, die schöne Geschichte.

Demimonde

Nur zu gern griff die blasierte und triebreduzierte Oberschicht der moralisierenden städtischen Anstandszivilisation in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Dumas‘ Begriff »Demimonde«, Halbwelt, aus dem Roman »Kameliendame« auf, um die lebenspralle, abenteuerliche Parallelwelt zu entwerten, die so ganz andere Vorstellungen von Sitte und Moral hatte – und vor allem lebte – als sie selbst.

Die Bezeichnung »Halbwelt« hat sich bis heute gehalten, ebenso wie ihre pejorative Konnotation, und sobald in der geschrumpften Ganzwelt der anständigen, wenn auch sexualmoralisch verknöcherten Kulturbeauftragten und feministischen Oberlehrerinnen die Rede auf die »Halbwelt« kommt, gehen sichtbar überall die roten Lichter an, und die Beteiligten verschwinden nach kurzer Zeit in Richtung Toilette, Verzeihung: Waschraum, und waschen sich den Mund aus.

Nur den einen oder anderen Professor Unrat halten vielgestaltigere Erfahrungen auf seinem Platz, denn er ist sich immer noch nicht sicher, welche der beiden Halbwelten die richtige für ihn ist oder ob es nicht wünschenswert sein könnte, beide Halbwelten auf neue und kreative Weise miteinander zu verbinden.

Schlafgewohnheiten

Der wissenschaftliche Theoretiker ruht sich auf seinen Abstraktionen aus, hört den Ruf der Universität und hofft, daß ihm bald ein Licht aufgeht, der metaphysische Esoteriker hält sich an seine Meditationsmatte, hört den Ruf des Kuckucks und hofft auf Erleuchtung. Der metaphysische Theologe liegt auf einer harten Pritsche, hört die Glocken läuten und ist voller Hoffnung auf Erlösung. So bunt und vielfältig sind die Schlafgewohnheiten im anorganischen Leben.

Die anthropomorphisierte Banane

Damit es hier nicht nur so ernst zugeht, wie es manchmal auf den ersten Blick scheint, habe ich mich trotz ernster Bedenken entschlossen, meinen ersten Witz zu erfinden:

Wie fühlt sich eine Banane nach dem Orgasmus?
Angeschmiert.

Vom Flachen und vom Runden

Eine holzschnittartige Karikatur ist breitenwirksamer als jedes  Psychogramm, weil das Publikum sich eine abgeflachte reduzierte Persönlichkeit viel leichter merken kann als eine runde. Deshalb sind Stereotype so beliebt, und die massenmedial betriebene reduktionistische Stereotypisierung ist neben den menschlichen Identifikationsbedürfnissen die Hauptquelle des Starkults.

Die drei Kränkungen

Immer wieder mal ist in den Feuilletons von den drei wissenschaftlichen Kränkungen des Menschen die Rede, und meistens wird dem Erfinder der dritten, Sigmund Freud, zumindest verhalten zugestimmt, so als träfe seine Behauptung auch heute noch den Kern der menschlichen Befindlichkeit.

Dabei hat Freud die ersten beiden Kränkungen (also die kopernikanische und die darwinsche) nicht zuletzt deshalb so sehr herausgestrichen – das Ego ist listig –, weil er seiner eigenen, der Mensch habe bei sich zu Hause nicht wirklich was zu sagen, damit noch mehr Gewicht geben wollte.

So wird ein Bild des in Sack und Asche gehenden Menschen gezeichnet, der, verloren und aller Wurzeln beraubt, einsam und nicht mal mehr seiner selbst gewiß, über den Planeten wandert.

Als hätte nicht die Wissenschaft in ihrer Weisheit, also als angewandte Wissenschaft, als Technik, für reichlich Medizin gesorgt, denn weit davon entfernt, gekränkt zu sein, sitzt der Mensch – das Ego ist listig –, tatsächlich mit der Fernbedienung vor dem Fernseher und empfindet sich als Herrscher des Universums.

Geschichtsschreibung und retrospektive Projektion

In dem Aufsatz »Natur und Geschichte« schreibt Hannah Arendt, für das Denken der ausgehenden Antike sei es nahezu selbstverständlich gewesen, geschichtliche Abläufe als kreisförmige Bewegung wahrzunehmen.

Schon im nächsten Satz aber heißt es bei ihr: »Im Sinne der klassischen Philosophie konnte das nur heißen, daß das geschichtliche Leben, seines linearen Charakters beraubt, in die Kreisbewegung der Natur zurückgenommen war …«

Wer wurde da »beraubt«? Ist es wirklich die klassische Philosophie?
Ist es nicht tatsächlich so, daß ein heutiger Denker, dessen Vorstellungen sich an einem linearen Modell der Zeitabläufe orientieren, dieses Modell in die klassische Philosophie identifizierend hineininterpretiert und deren Weltbild damit im nachhinein subtil und meistens ungewollt verfälscht?

Solcherart retrospektive Projektion ist sehr häufig, im alltäglichen Leben, wenn wir die Vergangenheit unserer Altvorderen bewertend betrachten, wie in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte.

Wir können unsere Augen jedoch nicht verleihen, schon gar nicht in die Skelette der Früheren verfrachten in der irrigen Annahme, sie könnten uns dann mehr über Sehgewohnheiten vergangener Epochen erzählen, als uns überliefert ist.

Systematiker

Es geht den meisten Systematikern in ihrem Verhältnis zu ihren Systemen wie einem Mann, der ein ungeheures Schloß baut und selbst daneben in einer Scheune wohnt: sie leben nicht selber in dem ungeheuren systematischen Gebäude. Aber in geistigen Verhältnissen ist und bleibt dies ein entscheidender Einwand. Geistig verstanden, müssen die Gedanken eines Mannes das Gebäude sein, in dem er wohnt – sonst ist es verkehrt.

Sören Kierkegaard

 

Alle großen philosophischen Systematiker der Weltgeschichte wohnen inzwischen in einer kleinen rechteckigen Kiste.

Über üble Gewohnheiten

William Faulkner sagt: »Wer keine üblen Gewohnheiten hat, hat wahrscheinlich auch keine Persönlichkeit.«

Dem muß ich, wenn auch augenzwinkernd, widersprechen, denn jener, der sich mit Akribie von allen denkbaren üblen Gewohnheiten fernhält, entwickelt damit eine Persönlichkeit, nämlich die eines Pedanten. Und Pedanterie ist nun wirklich eine der übelsten Gewohnheiten. Aber Faulkner hat ja vorsichtigerweise das Wörtchen »wahrscheinlich« eingefügt, weil er sicherlich mit einem derartigen Einwand gerechnet hat.

Science-fiction

Ein guter Science-fiction-Autor ist einer, der seinen Lesern suggeriert, er blicke durch ein Fernglas in die Zukunft, während er die Gegenwart unter sein Vergrößerungsglas legt. Die brillantesten Autoren schaffen es dabei, ihren Lesern für einen Bruchteil von Sekunden, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, ihr Handwerkszeug zu zeigen.

Über die Negativität kritischer Einwände

Ein farbenblinder Regisseur esoterischer Stummfilme antwortete auf einen meiner kritischen Einwände:

Du interpretierst kontinuierlich. Und du interpretierst natürlich gemäß deines Denkens. Was ich schreibe, wird nicht gelesen, du liest es schon auf deine eigene Weise. Und da du zweifelst, liest du nur Zweifelhaftes. Und da du negativ bist, liest du nur Negatives.

Meine Antwort:

Du weißt ja: Ich habe sehr viel Geduld, und wenn es nötig ist, wiederhole ich mich auch gern noch mal und noch mal.

1. »Du interpretierst kontinuierlich.«

Alles, was du sagst, sind DEINE Interpretationen DEINER Wirklichkeit. Es gibt keinen hinreichenden Grund, mehr darin zu sehen als Interpretationen. Warum nun sollten diese Interpretationen von mir anders behandelt werden als meine eigenen Interpretationen oder diejenigen anderer Leute? Wenn ich sogar selbstkritisch genug bin, meine eigene Sicht der Dinge mit einer gewissen Vorsicht zu beäugen und auf Plausibilität abzuklopfen, warum sollte ich dann gerade bei dir, der so offensichtliche und objektivierbare Fehler produziert, eine Ausnahme machen, als wäre ich eine Mutter, die ihr Söhnchen trotz seiner Mängel über den grünen Klee lobt, weil eine Mutter das eben tut.

2. »Und du interpretierst natürlich gemäß deines Denkens.«

Abgesehen davon, daß »gemäß« und der Genitiv sich von jeher nicht miteinander vertragen und deshalb nicht zusammen in einen Satz gesperrt werden sollten, hast du völlig recht: Ich interpretiere gemäß meinem Denken. Und du hast auch recht mit dem „natürlich“. Wenn deine Weisheiten nur dann verstanden werden, wenn ich meinen Kopf abschraube, ihn durch einen andern ohne Urteilsfähigkeit und eigene Denkleistung ersetze, dann kann es mit deinen Weisheiten nicht weit her sein.

3. »Was ich schreibe, wird nicht gelesen, du liest es schon auf deine eigene Weise.«

Was heißt das? Hier handelt es sich um eine sehr eigentümliche Logik. In dem Satz wird gesagt »nicht gelesen« und »du liest«. Es werden zwei Aussagen gemacht, die einander widersprechen. Selbst Laotse mit seiner brillanten paradoxen Denkweise würde hier milde lächeln ob der vordergründigen Absicht, dem Wunsch nach Unterwerfung, der diesem Unsinn zugrunde liegt. Das ist nicht mal ein Taschenspielertrick.

4. »Und da du zweifelst, liest du nur Zweifelhaftes.«

Das heißt also, du kannst schreiben, was immer du willst: etwa die Erde ist ein Fahrrad, und wenn einer seine Zweifel hat, daß diese Aussage richtig ist oder auch nur semantisch nachvollziehbar, dann nicht etwa, weil du Blödsinn erzählst, sondern weil sein Denken durch Zweifel vergiftet ist. Du machst es dir ganz schön leicht. Du erklärst, man solle sich erst mal einer Gehirwäsche unterziehen, bevor man die heiligen Hallen deiner Wortkunst betritt.

5. »Und da du negativ bist, liest du nur Negatives.«

Das ist nun wirklich ein Taschenspielertrick. Oder sollte man besser sagen: die letzte Konsequenz aller gescheiterten Möchtegernimperatoren? Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.

Es ist so, als würde ein Regisseur von Schwarzweißfilmen, der behauptet, seine Filme seien die einzig farbigen, zu den zweifelnden Zuschauern im Kino sagen: Wenn ihr keine Farben seht, dann liegt das an eurer Wahrnehmung.

 

 

 

 

Der Geist der Aufklärung

Weit entfernt davon, ein Atheist zu sein – denn ich halte den Atheismus nur für eine plumpe Widerspiegelung religiöser Theorien, für mit Säkularisationstünche überzogenen Ersatztheismus –, bin ich der Meinung, daß der Geist der Aufklärung von Zeit zu Zeit einer Auffrischung bedarf, besonders dann, wenn die religiösen Scharlatane aller Schattierungen es allzu bunt treiben, nicht zuletzt mit Unterstützung des Ungeistes der Aufklärung, denn leider ist es so, daß es nicht nur in der Sippschaft des religiösen Wahns viele zwielichtige Geschwister gibt, sondern auch in der Familie der Aufklärung.