Spiritus sanctus profanus

Einer, den ich von Zeit zu Zeit auf Widersprüche, falsche Verallgemeinerungen und ärmlich plausible oder auch ganz und gar unsinnige Behauptungen in seinen Texten hinweise, schrieb mir Folgendes:

»Du kannst den anderen nicht verstehen, wenn du innerlich schon Worte hast, denn dann verbindet sich alles mit deinen Worten, mit deinem Denkprozeß, und dann ist es gefärbt. Intellektuelles Verstehen bedeutet: Wenn du liest, argumentierst du gleichzeitig schon dagegen. Ein ständiges Argumentieren geht vor sich. Ich schreibe etwas, du liest es, und ständig ist in dir schon ein Gegenargument präsent: Ob dies richtig oder falsch ist. Du vergleichst es mit deinen eigenen Konzepten, deiner eigenen Ideologie, deinem eigenen System. Wenn du also hier liest, vergleichst du ständig, ob ich deine Ideen bestätige oder nicht, ob ich dir entsprechend bin oder nicht; ob du mir etwas zugestehen kannst oder nicht, ob ich dich überzeuge oder nicht. Wie ist auf diese Weise ein Verstehen möglich? Du bist zu voll von dir selbst. Was auch immer du also verstanden hast, wird nicht das sein, was ich gemeint habe. Das kann es nicht sein – denn wenn das Denken voll ist mit seinen eigenen Ideen, gibt es ständig allem eine Färbung, was zu ihm kommt. Es versteht nicht, was gemeint ist, sondern, was es verstehen möchte. Es wählt aus, es läßt aus, es interpretiert, und erst dann dringt etwas nach innen – aber das hat dann schon eine völlig andere Form. Dies also ist intellektuelles Verstehen.

Im spirituellen Leben sind die Gesetze diametral entgegengesetzt zu dem, was sie in der gewöhnlichen profanen Welt sind.«

Mein Kommentar dazu:

Wenn du willst, daß ich dich verstehe, mußt du sagen, was du meinst. Wenn du aber sagst, was du meinst, dann ist das, wie alles, was einer sagt, falsifizierbar, weil es mehr oder weniger plausibel ist. Und Plausibilität ist der Maßstab für alles, was einer sagt.

Wenn du dich auf die intellektuelle Abbildung deiner Denk- und Fühlprozesse einläßt – und das tust du, indem du etwas schreibst – und die Öffentlichkeit darüber informierst – und das tust du, indem du etwas publizierst –, dann mußt du damit rechnen, daß das, was du schreibst, überprüft wird. Dummerweise trifft deine eigene Ideologie nun auf andere Ideologien und muß sich mit ihnen messen, ob dir das nun paßt oder nicht, denn das, was du schreibst, ist keine heilige Schrift, sondern nur ganz «profane« Repräsentation von subjektiven Gedanken und Gefühlen und natürlich auch der Ausfluß der Ideologie, die du dir selbst zur Grundlage deiner Lebensweise gemacht hast.

An deinen Texten bemerke ich vor allem das, was du mir unterstellst – und sicher zu Recht: idiographische Färbung. Der Unterschied zwischen uns beiden aber ist der, daß ich ganz bewußt perspektivisch denke und meine Farben ständig wechsle und mische, während du dich allenfalls für die Mischung der Grautöne zu begeistern scheinst.

»Du bist zu voll von dir selbst. Was auch immer du also verstanden hast, wird nicht das sein, was ich gemeint habe.«

Aber sicher. Nur erwarte ich von dir, daß du aufhörst mit den Simplifizierungen und Generalisierungen, wenn es um die andern geht, und etwas mehr Genauigkeit und Präzision bei der Formulierung deines Anliegens walten läßt. Denn nur dann sind andere bereit, auf das einzugehen, was du sagst. Aber du scheinst mir so voll zu sein mit dichotomischen Bildern, daß du die andern nur als Kulisse deiner eigenen, ideologisch generierten Traumwelt wahrnehmen kannst.

Was du hier schreibst, ist ein ständiges Argumentieren von deinem ganz persönlichen, individuellen Standpunkt aus, und es macht ganz und gar keinen Sinn, anderen genau das vorzuwerfen, was du selber tust.

»Im spirituellen Leben sind die Gesetze diametral entgegengesetzt zu dem, was sie in der gewöhnlichen profanen Welt sind.«

Diesen Satz möchte ich mir zum Abschluß einmal kurz anschauen, damit du meine Denkweise etwas genauer kennenlernen kannst:

Was ist »spirituelles Leben«? Für mich ist das nur ein Spruch von Leuten, die ihr eigenes Leben auf einen Aspekt zu reduzieren versuchen. Aber es gibt nur mehr oder weniger Spiritualität im Leben, nicht »spirituelles Leben«. Ein spirituelles Leben ist kein »Leben«.

Im Grunde ist spirituelles Leben eine Contradictio in adjecto, aber so, wie du es gebrauchst, ein Epitheton ornans. Andere hängen sich andere Ketten um den Hals.

Welche »Gesetze«? Und wer hat sie erlassen? Und wie allgemeingültig sind sie?

»Diametral«? Das ist ein Lieblingsbegriff von Spätpubertierenden, die nicht begreifen wollen, daß sie in derselben Welt leben wie alle anderen. Weil diese Welt ihnen zu gewöhnlich ist. Und damit sind wir beim Schluß des Satzes:

»in der gewöhnlichen profanen Welt«. Altes Priestergewäsch. Und dann auch noch pleonastisch. Ich gestehe dir ja gerne zu, daß diese Welt dich anekelt, mir geht es häufig auch nicht anders. Aber wir haben nur diese eine Welt. Und die »heiligen Bezirke«, auf die das Wort »profan« dichotomisierend rekurriert, sind selbstreferentiell und nichts anderes als der matte Abglanz uralter Priesterphantasien.

Es gibt in dem Film »Gandhi« eine sehr schöne Szene, in der Gandhi seiner spirituell statusdünkelnden Frau deutlich zu machen versucht, daß es keine Schande ist, das eigene Klo selbst sauberzumachen. Für mich ist das eine Schlüsselszene.

Wenn du das hier liest, was ich schreibe, solltest du dir aber klarmachen, was grundsätzlich für alle gilt, die Profanen wie die Überprofanen: »Du vergleichst es mit deinen eigenen Konzepten, deiner eigenen Ideologie, deinem eigenen System. Wenn du also hier liest, vergleichst du ständig, ob ich deine Ideen bestätige oder nicht, ob ich dir entsprechend bin oder nicht; ob du mir etwas zugestehen kannst oder nicht, ob ich dich überzeuge oder nicht. Wie ist auf diese Weise ein Verstehen möglich? Du bist zu voll von dir selbst.«

Und du solltest nicht vergessen, daß aus deinem Hintern genauso unappetitliche, gewöhnliche, profane Krümel in die Welt entlassen werden wie aus jedem andern.

Von Tassen und Schränken

In manchen Schränken befinden sich nur wenige Tassen. Das ist eher traurig. Doch am ulkigsten sind die leeren Schränke, durch die der Wind pfeift und an denen draußen dransteht: Achtung, Porzellan! Aber auch das ist eher traurig als komisch.

All die großen Reden

All die großen Reden
Glanzskelettgestammel
Feuerwerk Gedankentod
ein Glimmen nur im Abendrot
glühwürmchengleich
nur hüpfende Lichter
in bunt gestreiften schwarzen Hosen
Gemurmel Lautgefummel
verzischen im ewigen Meer
im Nebel der gespenstisch
tickenden Zeit

Sucht

Es ist immer wieder erstaunlich, daß verändertes Freizeitverhalten besonders in der Pubertät, wenn es unerwünscht ist, von Leuten, die ihre eigenen Interessen mit denen der Jugendlichen verwechseln, schnell zur »Sucht« hochstilisiert wird.

Wenn ein Jugendlicher siebenmal die Woche exzessiv Schwimmtraining betreibt oder etwas Ähnliches, weil Eltern und Gesellschaft ihm eingeredet haben, er könne irgendwann mal Weltmeister werden und das sei etwas Tolles, dann gilt das als normales Verhalten, aber wenn er etwas anderes tut, das ihn interessiert, dann wird gern unheilschwanger von »Sucht« geredet.

Für einen Menschen mit einer besonderen Neigung zu irgendeiner Beschäftigung kann alles zur »Sucht« werden, und so kann es dazu kommen, daß jemand nächtelang Doom spielt, obwohl (oder weil?) der Rest der Familie im Sudoku-Fieber deliriert.

Vom Leben in der »realen Welt«

Die Klage, jemand habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren, ist meist nichts anderes als der Vorwurf, dieser teile weder unsere Meinung noch unsere Interessen und erfülle deshalb nicht unsere Erwartungen. Eine solche Klage ist Ausdruck von naiver Realitätsferne, denn warum sollte jemand unsere Realität dauerhaft als die seine mißverstehen?

 

Dropping knowledge

In Kürze werden Meinungen zu Fragen wie der, ob der Mensch einen freien Willen hat, zu Fragen also, über die die Philosophen bereits seit der Antike kontrovers diskutieren – und neuerdings auch die Neurowissenschaftler –, bei einer Veranstaltung mit Eventcharakter von »weltweit anerkannten Persönlichkeiten« an einem runden Tisch geäußert und medial aufbereitet.

Das ist eine lobenswerte Initiative und wird sicher den ein oder anderen zum Nachdenken darüber anregen, ob es sinnvoll ist, seine Lebenszeit überwiegend mit Zeittotschlagen zu verbringen. Wir werden viele Meinungen kennenlernen, aber neue, originelle Antworten auf all die drängenden Fragen sind eher nicht zu erwarten.

Doch: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Wer fragt, aber leider meistens ebenso, denn Fragen zu wesentlichen Unklarheiten produzieren von jeher mehr neue Fragen als neue Antworten.

Wir hätten den Apfel besser am Baum hängenlassen.

2006