Vom Reiten

Immer wieder erheiternd, wenn jemand sich im Irgendwie und Irgendwas und in scheinbaren Widersprüchen bei anderen ergeht, die er selbst in der Enge seines eigenen Horizontes produziert hat, und seinem Gesprächspartner dann mitteilt, dieser habe ihn nicht verstanden. Oder ihm großzügig, wenn auch ironisch, zugesteht, er habe jetzt zumindest teilweise (»es scheint, als hättest du wirklich etwas verstanden«) kapiert, worum es geht. Oder ihm Begriffsstutzigkeit unterstellt: »Ich bin mir nicht sicher, ob du verstanden hast, was ich sagte.« Die Kindergärtnerin spricht mit Kleinkindern.

Aber Kindergärtnerinnen haben irgendwann mal Feierabend und sollten sich darauf einstellen, daß ihre Gesprächspartner nun andere sind.

Und wenn sie etwas mitteilen wollen, dann sollten sie es so präzise tun, daß auch noch andere als sie selbst verstehen können, was sie meinen. Denn wenn du nicht verstanden wirst, dann liegt das manchmal daran, daß du nicht sagst, was du meinst. Oder daran, daß andere eine andere Meinung zu dem von dir Gesagten haben als du. Und eine andere Meinung kann man nicht einfach dadurch wegwischen, daß man erklärt, der Gesprächspartner habe einen nicht verstanden. Oder nur zum Teil. Ein plausibles Gegenargument hat dann, wenn es dir nicht einleuchtet, ein Gegenargument verdient. Wer auf ein Gegenargument mit solchen Sprüchen reagiert, verhält sich respektlos und anmaßend. Früher nannte man solche Leute Herrenreiter.

Ich habe nichts dagegen, wenn Leute auf einem hohen Roß sitzen. Aber sie müssen reiten können.

Fußball 

Beim Fußball geht es nicht um die Wade von X oder darum, ob Y zu dick ist. Darum geht es nur in den Medien, und der eine Spieler, der ein Spiel allein entscheidet, ist eine Kommentatorenlegende. Fußball ist eine Mannschaftssportart, und erfolgreich bei einem Turnier wird am Ende die Mannschaft sein, deren Spielern es am besten gelingt, mit dem Kopf nicht nur zu köpfen, sondern sich auch auf die archaischen Muster des kollektiven Unbewußten einzustimmen und sie nicht als bedeutungslose phylogenetische Rudimente abzutun: Eine Gruppe von Jägern geht auf die Jagd.

Die letzten Abenteuer

Man muß nicht mit dem Flugzeug in die noch verbliebenen Dschungel am Amazonas oder in den Jemen reisen, um verlorenzugehen. Es reicht, sich in die U-Bahn zu setzen und zur Untersuchung in ein großes Berliner Krankenhaus zu fahren.

Stellungskrieg

Ist es nicht so, daß wir gerade dann etwas dazulernen, wenn jemand unsere Feststellungen in Frage stellt und uns so die Gelegenheit gibt, Meinungsaustausch als gemeinsamen Wachstumsprozeß zu sehen und nicht als Krieg der Stellungnahmen?

Über die Wahrnehmung fremder Meinungen

Wer zu gut weiß, welche Meinung ein anderer hat, projiziert seine eigene Meinung in die Meinung anderer und nimmt sich damit die Möglichkeit, dessen tatsächliche Meinung wahrzunehmen.

Genaugenommen gilt das auch für die eigene Meinung. Wer zu gut weiß …

Nivellierungsversuche

In Ochsenherden sind Paradiesvögel nicht gut angesehen, denn man kann keinen Paradiesvogel dazu bringen, wie ein Ochse zu gucken. Einen Esel schon eher. Deshalb versucht man gern, wenn auch mit wenig Erfolg, den Paradiesvogel davon zu überzeugen, daß er ein Esel ist.

Über Kindesmißbrauch

Wenn einer daherkommt und mit terroristischen Mitteln massenhaft Menschen umbringt, dann muß es legitim sein, ihn mit allen Mitteln davon abzuhalten. Ganz gleich, ob er eine schwere Kindheit hatte oder sein Vater von einem GI verprügelt wurde. Und wenn man dieses Mörders mit polizeilichen Mitteln nicht habhaft werden kann, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, dann muß es notfalls erlaubt sein, ihn zu töten.

Und wenn ein Kindermörder getötet wird, so daß er im weiteren keine Kinder mehr töten kann, dann sollte man sich gegenüber den Leuten, die ihn getötet haben, nicht mit dem moralischen Zeigefinger hervortun und in den Mittelpunkt der Betrachtung die bedauerliche Tatsache stellen, daß beim Tod des Kindermörders das Kind des Kindermörders ebenfalls getötet wurde.

Ich finde es widerlich, daß in militärischen Konflikten von allen Seiten der Tod von Kindern benutzt wird, um für sich selbst politisches Kapital daraus zu schlagen und Konfliktbeteiligte moralisch zu diskreditieren. Und zwar unabhängig davon, ob sie diese Diskreditierung verdienen oder nicht.

Von der Wichtigkeit der Schiedsrichter beim Fußball

Die Würze des Fußballspiels sind nicht nur die großartigen Flankenläufe oder die aus spitzestem Winkel erzielten Tore, die Würze sind vor allem die tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlentscheidungen der Schiedsrichter. Erst sie schaffen die prickelnde Atmosphäre, ohne die die meisten Fußballspiele zum Rasenschach würden und die Fußballgespräche zum Dialog der Statistiker.

Wenn die Schiedsrichter nicht so wären, wie sie sind, wer würde dann noch vom dritten Wembley-Tor sprechen, das keines war, oder von Maradonas Hand Gottes? Schiedsrichtern gebührt Lob, ganz gleich, ob sie gut pfeifen oder nicht. Also, lobet die Schiedsrichter, auch dann, wenn sie ihre Kontaktlinsen verloren haben, denn wenn ihre Fehler in wichtigen Spielen spielentscheidend sind, dann gehen diese Spiele in die Geschichte ein. Die anderen vergißt man schnell.

Was uns allerdings ein wenig die überschäumende Freude an den Fehlentscheidungen nimmt – und an den großzügigen Regelauslegungen (also den Fehlentscheidungen, die unserer eigenen Mannschaft nützen) -, sind die ständig wachsenden Möglichkeiten der Videoüberwachung.

Wer weiß, irgendwann wird der satellitengestützte Schiri auflaufen, und dann ist es mit dem Spaß vorbei.

Fleisch für Vegetarier

Verschleiertes Paradoxon der vegetarisch sozialisierten, postfeministisch bewegten Frau: die uneingestandene Neigung fürs Muskelfleisch des galanten Rabauken. Als Vorübung zum Abendessen Rucola mit Büffelmozzarella in Basilikumöl und danach im Bett ein Buch von Corinna Rückert.

Mißlungene Ironiesubstitution

Mir hatte im letzten Jahrhundert mal ein Lehrer ins Heft geschrieben: »Vermeide Ironien, sie werden meistens nicht verstanden.« Deshalb bemühe ich mich, die Ironie zu verstecken, so gut es geht, und versuche es jetzt manchmal mit getarnter, subtiler oder auch paradoxer Ironie.

Der rechte Erfolg stellt sich aber trotzdem nur selten ein. Nur gut, daß es bei mir keinen Lehrer mehr gibt, der mir etwas ins Heft schreibt. Höchstens eine Lehrerin.

Lunare Luzidität

Wenn der Mondwind
an die Scheiben klopft
knirscht der Kies
im inneren Ohr
und du denkst
jetzt kommen die Räuber
und du fühlst
wie es rauscht
im Ozean
Gezeiten im Blut
und du schwankst im Rausch
des Melatonins
wirbelst herum in
überlappenden Gravitationen
als wärest du ein Eisenspan
im Sog polarer Magnete
und du siehst
wie das volle Gesicht
der Sommernacht
wissend lächelt
ein gütiger Räuber
der dich beschenkt
und du träumst
deinen Traum
schlaflos weiter
als schliefest du wachend
als wärest du
wach

Zur Pornographie

Bei näherer Betrachtung steckt hinter der Ablehnung jeglicher Pornographie nichts anderes als Furcht vor dem Leben. Und je größer diese Furcht, um so stärker die Ablehnung. Sie ist der altbekannte Reflex der apollinischen Scheinwelt gegen die dionysische Urgewalt, die von innen an unsere Pforten klopft und Einlaß begehrt.