Konfuzius sagt: »Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist …« Ist es wirklich so? Oder sollte man nicht richtiger sagen: Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, das, was gemeint ist. Denn das Nicht-Stimmen der Sprache zeigt, daß das Gemeinte nicht stimmt. Nicht stimmige Sprache ist nur der stimmige, passende Ausdruck nicht stimmigen Denkens. Oder kürzer: Die Sprache bringt es an den Tag.
Monat: August 2018
Tirade 5 – Reifenwechsel
Ein Reifenwechsel
blitzgeschwind vom Hier zum Nicht
rasendes Fahren
als erster angekommen
und den Wettlauf verloren
Tirade 4 – Augenbilder
Die Bilder täuschen
so schillernd wie die Menschen
die sie malen
schamfernes Augenlügen
verlogenes Betrachten
Versfuß
Auch ein Versfuß läuft am besten in guten Schuhen.
Tirade 3 – Melancholie
Bei guter Fernsicht
das Abendkulturprogramm
Sonnenuntergang
Vexierspiel der Farbenschrift
fröhliche Melancholie
Tiradentiraden
Herzschlag auf Herzschlag
Zwischen Tönen Tiraden
im Sehen Blicke
wie Gedankensekunden
an den Rändern der Zeiten
Tirade 2 – Gewicht
Die Morgenzunge
malmendes Knabbern der Zähne
im Rauhreif Knacken
Wortgewicht an den Schnüren
die Striemen glühen im Fleisch
Tirade 1 – Goldmund
Früh singt ein Vogel
am Horizont die Sonne
wie ein Genickschuß
im Winde flattern Raben
ernste Gesichter im Licht
Börsenmetaphorik
Ein Börsenmakler zur geplanten Übernahme von Schering durch Merck: »Es nützt nichts, der Braut die Klunkern vom Halse zu reißen, um sie unattraktiver zu machen, aber man kann es ja versuchen.«
Was sagt uns das? Was Metaphern betrifft, steht der Soziolekt der Börsianer der Literatursprache in nichts nach, ja, er übertrifft sie bisweilen. So sachlich und nüchtern die Börsenleute auch denken mögen, sprachlich schwelgen sie häufig in geradezu poetischen Eskapaden.
Wissen und Wahrnehmen
Das Wissen darüber, was richtig und falsch, gut und böse, angemessen oder unangemessen ist, reicht nicht aus – wir müssen das Falsche auch wahrnehmen, einerlei ob es sich um unsere eigenen Fehler oder die Fehler anderer handelt.
Stimmung
Plötzlich die Leere
ein Abgrund faltet sich auf
tonlos grundlos fahl
Wind wie Atem der Hölle
die Augen im Augenblick
Vergessene Worte
Stumpfe Gedanken
im Schutt der fliehenden Zeit
fast Vergeblichkeit
nur geschliffene Worte
Aschenregen der Farben
fast Vergeblichkeit
im Schutt der fliehenden Zeit
Stumpfe Gedanken
Aschenregen der Farben
nur geschliffene Worte
im Schutt der fliehenden Zeit
fast Vergeblichkeit
Stumpfe Gedanken
Aschenregen der Farben
nur geschliffene Worte
Farbige Vergeblichkeit
An den Kopf fassen
Wer selber denkt, aber weniger ausgefallene Ideen hat, gibt sich mit einem Schmunzeln zufrieden, wenn er mit Bizarrem konfrontiert wird. Die meisten aber fassen sich an den Kopf, wenn ihnen ein extravaganter Gedankengang begegnet.
In Wirklichkeit ist dieses An-den-Kopf-Fassen natürlich keine Bewertung des fremden Gedankenganges, sondern Folge eines durch diesen hervorgerufenen Mangelgefühls. Sie tun das instinktiv: Sie müssen sich vergewissern, ob ihr eigener Kopf noch da ist. Und wenn sie ihn dann spüren, folgt ein befreiendes Lachen.
Über ungewöhnliche Ideen lachen am lautesten diejenigen, die selbst zwar einen Kopf, aber keine weitere Verwendung für ihn haben.
Glaube und Wahrheit
Jeder Glaube an die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit, und sei diese Wahrheit noch so leuchtend und menschenfreundlich, führt zwangsläufig zu Dogmatismus, totalitärem Denken und menschenfeindlichem Handeln.
Liebe ist
Liebe ist, einem andern zu ersparen, jemals um Verzeihung bitten zu müssen. In das Gewand der Liebe ist Verzeihung eingewebt.
Kunst am falschen Ort
Sierra, ein spanisch-mexikanischer Künstler, leitet Autoabgase in eine deutsche Synagoge, eine, wie er sagt, „Arbeit gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust“. Was an dieser Aktion falsch ist, ist vor allem der Ort, an dem sie stattfindet. Hätte Sierra statt der Synagoge das Haus der Wannseekonferenz gewählt (aber hätte er so wählen dürfen?), würde ich diese Aktion wenn nicht begrüßen, so doch als legitim betrachten können angesichts der so häufigen leeren und verlogenen Betroffenheitsbekenntnisse allerorten.
So jedoch muß ich denen recht geben, die eine solche Aktion als geschmacklos empfinden.
Kultur und Mathematik
Wie so oft in unserer medial sichtbar gemachten, aber auch verformten Welt stelzen die tauben Nüsse in goldenen Schuhn daher und alle Welt gafft und klatscht vor allem denen Beifall, die sich selber Beifall klatschend in den Vordergrund drängen. Was kümmert es mich, könnte man sagen, ja, man ist versucht, diese Kindereien zu belächeln, und belächelnswert sind solche narzißtischen Zuckungen tatsächlich. Und ohne Belang.
Wäre da nicht der Nebeneffekt dieser Veranstaltung. Und der besteht darin, daß man im Gewimmel der perlenbehängten Säue, die sich allerorten tummeln, die häufig eher schlichten Perlenproduzenten übersieht, die allzuoft still und bescheiden lächelnd im Hintergrund oder gar im Untergrund agieren: der Geist am Katzentisch, während die Geistlosigkeit ihre rauschenden Feste feiert.
Deshalb hier mein Unbescheidenheitsimperativ: Überlaßt die Bescheidenheit den Unbescheidenen, denjenigen, die sie gern im Munde mit sich führen, um sie bei jeder Gelegenheit andern zu predigen. Man sollte diesen Leuten ruhig hin und wieder vor die Füße spucken. Und man sollte andere darauf hinweisen, wenn man eine Veranstaltung findet, bei der die Nullen hinten stehen und nicht vorn, denn es ist im kulturellen Leben wie in der Mathematik: Wenn die Nullen vorne stehen, ist der Wert gering.
Lose connection
Der elektrisierendste Kontakt zwischen den Geschlechtern ist der Wackelkontakt.
Normalität
Alle Tage Schaum
Blicke in blinde Spiegel
kein Wort für das Bild
gebürstete Gedanken
wie geschniegelte Leute
Diaspora
Ruhe finden im Gewühl
der blinden Tauben
ein Korn in der Nacht
Steppengeflüster
in der Luft
der Geruch
verbrannter Kadaver
und der holzige
Rauch der Fremde