Über Gedichtinterpretation

Wer ein Gedicht analytisch seziert und regelgeleitet interpretiert, läuft Gefahr, das Gedicht gründlich mißzuverstehen. Es ist so, als wenn man einem Lebewesen das Blut abzapfte, um es besser zu begreifen. Gedichtinterpretationen erscheinen manchmal sehr plausibel, und man kann einiges aus ihnen lernen, aber meistens mehr über das Weltbild, die Bildung und den interpretatorischen Ansatz des Rezipienten als über das Gedicht. Von den Intentionen des Dichters ganz zu schweigen.

Es gibt sogar Interpretationsverfahren, die Gedichte zerstören, weil sie die komplexen Wort-und-Sinn-Gebilde auf architektonische Phänomene reduzieren. Mit einer architektonischen Denkweise aber läßt sich ein musikalisches Phänomen nicht erfassen, nicht mal dann, wenn es so streng architektonisch daherkommt wie Bachsche Fugen.

Die Frau

Was die Frau dem Mann über ihre strukturelle Beschaffenheit mitteilt, ist gleich Null. Männer bilden sich ein, die Strukturen, die sie finden (wenn sie denn welche finden), sagten ihnen etwas über den »Bauplan« der Frau; dabei betrachten die Männer nichts weiter als die Strukturen ihres eigenen Denkens, die ihnen von ihren »Forschungsgegenständen« entgegenblinken.

Frauen sind mit Spiegeln umstellt, undurchdringlich für den Blick des Mannes. Er sieht immer nur die Reflexion seines eigenen Denkens, kann gar nichts anderes sehen. Wenn er doch nur begriffe, daß er die Oberfläche der Frau betrachtet, wenn er glaubt, in ihre Geheimnisse eingedrungen zu sein.

Umgekehrt gilt natürlich (fast) das gleiche.

Über Gefühle und Entscheidungen

Allem, was wir tun, liegt eine Entscheidung zugrunde, das zu tun, was wir tun, sei uns das nun bewußt oder nicht, sei die Entscheidung eine bewußte oder eine, die wir erst in unserem veränderten Handeln bemerken. Es ist ein Mythos, daß wir uns von unseren Gefühlen leiten lassen, denn die Gefühle entstehen erst in der Folge. Wir können uns erst in einen Menschen verlieben, wenn wir uns entschieden haben, ihn anzuschauen. Wir müssen uns immer erst entscheiden, diesem oder jenem Gefühl Raum zu geben – oder auch nicht. Das alles gilt auch für die Entscheidung, uns nicht zu entscheiden.

Von Raupen und Schmetterlingen

Die Raupe stand immer wieder vor dem Spiegel, betrachtete sich und sagte ein ums andere Mal: »Wie ein richtiger Schmetterling.«

Der Schmetterling, der noch Reste seines Kokons mit sich herumschleppte, die an ihm klebten, erkannte die versteckte Schönheit in der Raupe, die sich unterschied von allen anderen Raupen, ja Schmetterlingen, flog immer wieder um die Raupe herum und versuchte, sich bemerkbar zu machen. Aber die Raupe spielte ihre Spiele vor dem Spiegel und beachtete ihn nicht.

Schließlich faßte er sich ein Herz und sprach sie an. »Du wunderschöner Schmetterling, du bist doch auch allein wie ich, wollen wir uns zusammentun?«

Doch die Raupe sah nur kurz hoch vom Spiegel, taxierte den Schmetterling sekundenschnell und schaute dann an ihm vorbei.

»Laß mich in Ruhe, ich interessiere mich nicht für Raupen«, sagte sie unwirsch.

Bildstörung

Nichts nützt das Rütteln am Tisch,
wenn der Kopf nicht aufspringt.
Die Strahlen des Mondes rufen vergebens.
Noch zucken unruhig die Augen
hinter lähmenden Jalousien.
Geduldig harren meine Hände.

Nichts nützt das Rütteln am Kopf,
wenn das Herz nicht anspringt.
Die Strahlen der Sonne rufen vergebens

Selbstverwirklichung?

Eine besondere Art von Hilferufen ist die, die der Rufer selbst nicht bemerkt: Wer auffällig akzentuiert seine Unabhängigkeit und Selbstbestimmung betont und sich und andern mit besonderer Eindringlichkeit zu zeigen versucht, daß er ohne fremde Hilfe alles im Griff hat, zeigt damit, daß es nicht so ist und er der Hilfe bedarf. Das Fatale daran ist die Vehemenz, mit der die angebotene Hilfe zurückgewiesen wird, weil man ja ganz eigenständig selbst alles im Griff zu haben sich einredet. Wird der Hilferuf von andern gehört, werden diese als Phantasten betrachtet, und das Hilfsangebot wird ausgeschlagen, das Unabhängigkeitsgehabe verstärkt. Oft endet dies nach anfänglicher Euphorie nicht in der Selbstverwirklichung, sondern in einer heftigen Lebenskrise. In krassen Fällen manchmal dann in der Selbstzerstörung.

Gesunder Menschenverstand

Häufig ist zu lesen, wenn man sich dieses oder jenes anschauen würde, dann sei sicher, daß man den Glauben an den gesunden Menschenverstand verlöre. So schlimm? Ja, wenn ich es mir dann anschaue, kann ich die Erwartung manchmal verstehen. Manchmal aber auch nicht, und zwar deshalb, weil das Vorgeführte mir unmittelbar einleuchtet und ich keinerlei Widerspruch in meinem Verstand bemerke. Und in aller Regel kann ich mich auf meinen Verstand verlassen, das weiß ich aus Erfahrung. Auf den gesunden Menschenverstand kann ich mich jedoch nicht verlassen, und auch das weiß ich, weil ich es erfahren habe – und nicht nur ich.

An den gesunden Menschenverstand glaube ich nicht, und deshalb kann ich den Glauben an ihn, man verzeihe es mir, daß ich den Erwartungen nicht gerecht werden kann, nicht verlieren. Um den Glauben an den gesunden Menschenverstand verlieren zu können, muß man einen kranken Verstand haben, denn nur ein kranker Verstand glaubt an den gesunden Menschenverstand. Und nur wer an etwas glaubt, kann diesen Glauben verlieren. Nein?

Doch. Daraus folgt, daß es der kranke Verstand ist, der an den gesunden Menschenverstand glaubt, und der ist ihm das Maß aller Dinge, denn wenn der kranke Verstand ganz ehrlich ist, dann gibt er zu, daß er sich selbst für den gesunden Menschenverstand hält und daß er davon ausgeht, daß es andere gibt, die nicht über diese Art Verstand verfügen, wie zum Beispiel ich. Wenn er seinen Glauben an den gesunden Menschenverstand aber nun verliert, was hat er dann noch? Richtig, dann hat er was gewonnen: Verstand.

Wir

Manchmal fühle ich mich einen Wimpernschlag lang recht wohl in meiner Welt, aber nur so lange, bis mir wieder einfällt, daß meine Welt ein Teil deiner Welt ist und deine Welt ein Teil meiner, auch wenn dir das vielleicht nicht klar ist, und dann wird mir bewußt, daß ich allein bin in meiner Welt, wenn ich nicht gleichzeitig in deiner Welt bin. Und auch wenn mir deine Welt weniger gut gefällt als meine, möchte ich doch auf Dauer nicht allein sein, denn Solipsismus ist etwas für Abgestorbene, und ich fühle mich sehr lebendig. Bleibt nur die Hoffnung, daß unsere scheinbar getrennten Welten sich im Bewußtsein einander annähern und irgendwann miteinander verschmelzen, das heißt, daß wir beide erfahren, wo wir wirklich sind.